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Karls Wohlgestalt – ein Weihnachtsrätsel für stille Zeiten

von Heribert Illig

Karls Biograph Einhard soll zwei Jahrzehnte am Hofe Karls gelebt haben; so konnte er aus eigener Anschauung schreiben:

„Sein Körper war ansehnlich und stark, seine Größe stach heraus, ohne das rechte Maß zu überschreiten (denn bekanntlich betrug seine Länge sieben seiner Füße)“ [Vita Karoli, c. 22, laut Pat­zold 2013, 22].

Da ich bei Patzold nicht finden konnte, welche Übersetzung er gewählt hat, zitiere ich dieselbe Passage auch in der Übersetzung von Evelyn Scherabon Firchow:

„Karl war kräftig und stark, dabei von hoher Gestalt, die aber das rechte Maß nicht überstieg. Es ist allgemein bekannt, daß er sieben Fuß groß war.“ [Vita Karoli, c. 22]

Der Bezug zur vermeintlichen Realität ist schwierig, ermöglicht das kopflose Skelett im Aachener Karlsschrein eine doch recht variable Körperlänge: zunächst 2,14 m, dann 1,92 m, dann 1,82 m, dann 1,84 m [vgl. Illig 1999, 46]. Furcht und Schrecken kamen auf, als laut Untersuchung von 2010 der Tote „wohl eher eine schlanke Statur aufwies und eine grazile Person war“ [vgl. Illig 2014, 71], denn das wollte nicht zu dem Hünen passen, der ununterbrochen ritt, kämpfte, schwamm und vier Hufeisen auf einmal biegen konnte [Illig 1998, 49]. Demnach kann es sich nicht um Karls Skelett handeln; im schlimmsten Falle um das eines Verbrechers, den der Scharfrichter einst geköpft hat. Diese Fatalität wurde von Aachen wie von den Mediävisten rasch übergangen.

1993 war bis zur Boulevardpresse durchgedrungen, dass bei dem Maß von 7 Fuß Karl eigentlich zu kleine Füße gehabt hätte. So kam es zu der Schlagzeile: „Karl der Große (Schuhgröße 42) ˑ Hat er nie gelebt?“ [Martin 1993; vgl. Illig 1998, 46]. Weiter hatte ich über die Relation von Körpergröße zu Fußlänge damals nicht nachgedacht.

Doch selbst hier ist noch etwas zu finden und aufzuklären. Wie steht es um die Überlieferung von Einhards Biographie, die er ‚nach Vorgabe‘ des Kaiserbiographen Sueton gestaltet hat?

„Das immense Interesse an Karl dem Großen und der außerordentliche literarische Erfolg seines Biographen lassen sich auch an der handschriftlichen Überlieferung ablesen. Die Vita Karoli Magni gehört mit 123 erhaltenen Handschriften bzw. Fragmenten, davon 105 aus dem Mittelalter, und weiteren bezeugten, jedoch verlorenen Exemplaren in die Spitzengruppe der Texte der lateinischen Literatur des Mittelalters, die die breiteste handschriftliche Überlieferung überhaupt aufweisen. Zumeist wurde sie in Sammelhandschriften zusammen mit weiteren Texten über Karl den Großen sowie anderem historiographischem Material über­lie­fert  Trotzdem dauerte es nach der Erfindung des Buchdrucks immerhin ein Drei­viertel­jahr­hundert, bis die editio princeps, die erste gedruckte Ausgabe, des historisch inter­es­sier­ten Humanisten Beatus Rhenanus bei Johannes Soter, Köln 1521, erschien“ [wiki: Vita Karoli Magni].

Übergangen wurde hier, dass es weder das Original noch eine Abschrift vor dem Jahr 1000 gibt. Das älteste Exemplar liegt im elsässischen Schlettstadt/Sélestat, in der Bibliothèque humaniste, als Codex mit der Signatur 11; er wird von Patzold [13] dem 11. Jh. zugeordnet, während Richard Corradini 2004 [217] auf „10./11. Jh.“ veraltet hat und noch vor ihm Karl August Wirth 1967 [283] auf den Blättern des Codex Einträge des spätesten 9. Jh. und aus der Mitte des 10. Jh. zu finden glaubte.

Nicht angesprochen wird, ab wann und von wem Einhard nach der Karolingerzeit zitiert wird. Hier wäre noch manches zu gewinnen, das sich aber in Corona-Zeiten bei weitgehend geschlossenen Bibliotheken nur schwer eruieren lässt.

Ich gehe angesichts des erfundenen Mittelalters davon aus, dass Vita Karoli und Reichsannalen, wie früher angenommen, von ein und derselben Person geschrieben worden sind, die im ersten Fall als Einhard firmiert hat. Bei den titellosen Reichsannalen, heute als Annales Regni Francorum, früher als Große Lorscher Annalen bezeichnet, habe ich aus verschiedenen astronomischen Indizien geschlossen – insbesondere Himmelslokalisierungen mittels Sternzeichen und zusätzlicher Gradangabe –, dass sie erst Ende des 12. Jh. geschrieben worden sind [Illig 1996, 92 f.]. Das könnte dann auch für die Vita Karoli gelten. Einhards Vorwort lässt kaum eine andere Interpretation zu, wenn ich drei Zitate bringe und daran erinnere, dass Einhards zur Zeit der Niederschrift Privatsekretär von Kaiser Ludwig dem Frommen (813–840) gewesen wäre:

„Zwar weiß ich genau, daß es Gelehrte gibt, die die heutigen Verhältnisse nicht für so unbedeutend halten, daß sie glauben, alles Gegenwärtige verdiene Verachtung und müsse ohne jede Aufmerksamkeit schweigend übergangen werden. […]

Gleichwohl hindern mich alle diese Gründe keineswegs, mit meinem Werk zu beginnen, da ich sicher bin, daß außer mir niemand die Ereignisse genauer schildern kann. Auch ist es nicht völlig gewiß, daß sonst noch jemand darüber berichten wird. Und so hielt ich es für besser, daß diese Geschehnisse in verschiedenen, wenn auch ähnlichen Darstellungen der Nachwelt überliefert werden, anstatt es zuzulassen, daß das ruhmvolle Leben und die unvergleichlichen und heute unnachahmbaren Taten dieses angesehensten Königs seiner Zeit im Dunkel der Vergangenheit verschwinden. […] Man könnte mich also mit Recht undankbar nennen, wenn ich die großartigen Taten dieses Mannes, der sich um mich so sehr verdient gemacht hat, stillschweigend überginge und es zuließe, daß sein Leben keine schriftliche Würdigung oder gebührende Anerkennung erhielte – ganz so, als hätte er nie existiert![Vita Karoli, Vorwort; Hvhg. HI].

Was für ein Plädoyer! Eine Beleidigung für seine eigene Gegenwart, für seinen Kaiser, immerhin Sohn des hochgepriesenen Karls, für die zeitgenössischen Gelehrten, die lange überlegen müssen, ob man nicht die Glanzzeit der Franken einfach vergessen könne. Gelehrte, „die an allem Modernen etwas auszusetzen haben“ und gleichzeitig „die alten Meisterwerke“ ablehnen, also gar nichts gelten lassen, aber zum eigenen Nachruhm schreiben. Und dann der Zweifel, ob irgendjemand Karls Leistungen ignorieren werde, gekrönt von der Volte: Weil nur er, Einhard, allein diese Zeit gebührend schildern könne, während die anderen sie vermutlich vergessen werden, möchte er gleich mehrere Darstellungen der Karlszeit sehen. Ist diese Klage für eine Zeit realistisch, die einer Epoche ohne Gelehrte folgt und selbst noch kaum kluge Köpfe kennt?

Nie rastender Gelehrtenfleiß hat herausgefunden, dass Karl in Aachen eine zwar verlorene, aber vollständige Ausgabe von Vitruv besessen haben muss.

„In Aachen folgte als Berater des Kaisers auf Theodulf von Orléans und Alkuin von Tours – wohl nach dem Abgang des Letzteren (796) – der erheblich jüngere Einhard. Dieser war, da er bereits am Aachener Hof von Alkuin im neuen Geist erzogen worden war, ein Kenner der Antike, insbesondere Vitruvs. Daher vertraute ihm Karl die Aufsicht über die kaiserlichen Bauten in Aachen an“ [Pippal, 175].

Vitruv ist wohl zwischen 80 und 70 v. Chr. geboren worden, hat unter Kaiser Augustus in der Armee auch als Wasseringenieur gedient und danach als Architekt vor allem für die Wasserversorgung gebaut, dazu eine Basilika im heutigen Fano. Seine „Zehn Bücher über Architektur“ konnte er zwischen 33 und 22 v. Chr. dank einer ihm von Augustus bewilligten Pension schreiben. In diesem ersten umfangreichen Werk über Baukunst findet sich der Hinweis auf die Wohlgestalt, gewissermaßen auf den ‚wohltemperierten‘ Körperbau, wie ihn die Alten kannten:

„Nicht minder haben sie auch deshalb, weil der Fuß den sechsten Teil der Höhe des Menschen ausmacht und folglich durch eine Anzahl von sechs Fuß die Höhe des Körpers bestimmt wird, diese Zahl als die vollkommene aufgestellt“ [Vitruv, 3. Buch, 1. Kap. 7].

Der Mensch ist demnach im Idealfall 6 seiner Füße groß. Doch auch diese Proportion erschien einem Gelehrten des 19. Jh. willkürlich:

„Warum ist vielmehr, nach den hier gegebenen Bestimmungen, der Kopf ein Achtel, der Fuss ein Sechstel, die Brust und der Ellnbogen [sic] ein Viertel der Körperlänge? […] Auf alles dieses erhält man keine Antwort; vielmehr trägt Alles auf das Augenscheinlichste den Stempel der Willkühr und der Zufälligkeit, und ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Bestimmungen und der allgemeinen Idee seines Proportionalgesetzes besteht bloss den Worten, aber nicht dem Sinne nach“ [Zeising, 45].

Immerhin führt derselbe Adolf Zeising an, dass es im Alten Reich Ägyptens bereits die Konstruktion des Körpers aus sechs Fußlängen gegeben habe, hier allerdings mit einer darüber frei hinausragenden Scheitelwölbung [Zeising, 40]. So war der antike Kanon definiert. Aber wieso spricht dann der Vitruv-Kenner Einhard von 7 Fuß? Dazu noch ein Blick aufs Mittelalter und seine Vitruv-Rezeption:

„Der Text war während der Spätantike und des Mittelalters bekannt. Es existieren ca. 80 mittelalterliche Manuskripte, darunter ein angelsächsischer Text und ein karolingischer Text um 800, den Einhard kannte. Kopien gab es unter anderem in St. Gallen, Cluny, Canterbury und Oxford.

Größere Bekanntheit erlangte Vitruv erst in späterer Zeit, besonders in der Renaissance. Eine neue Stilrichtung der Architektur, die sich die Antike zum Vorbild nahm, griff auf Vitruv zurück, um die Grundlagen der römischen Architektur zu lernen. Nun suchte man in den Klos­ter­bibliotheken nach den seltenen Vitruv-Handschriften, wie unter anderem der Humanist Poggio Bracciolini, der im Jahr 1416 eine Vitruv-Handschrift in der St. Galler Klosterbiblio­thek fand. Gedruckt wurde das Buch zum ersten Mal von Giovanni Sulpicio ca. 1486 in Rom her­aus­gegeben“ [wiki: Vi­truv].

‚Selbstverständlich‘ ist der Aachener Vitruv-Text verschollen, aber die Diplomatiker sind überzeugt, von ihm zuverlässige Abschriften zu besitzen [Stock]. Andererseits ist Stefan Amt [2017] der Meinung: Es gibt keinen älteren Vitruv-Text als den von Bracciolini gefundenen. Gianfrancesco Poggio Bracciolini ist kein Unbekannter für uns, hat er doch als einer der erfolgreichsten Pergament-Jäger zahlreiche antike Schriften aufgespürt. Die Liste der von ihm entdeckten Manuskripte umfasst rund 30 Autoren [vgl. Illig 2020, 88-91]. Dieser päpstliche Sekretär wurde verdächtigt, zahlreiche Texte nicht aufgefunden, sondern selbst verfasst zu haben. Doch scheitert dieser Vorwurf an der zu langen Autorenliste seiner Funde, ganz abgesehen davon, dass er nicht die zehn Bücher des Vitruv, die zwölf Bände des Columella über Landwirtschaft und das längste Gedicht der lateinischen Literatur, die Punica von Silvius Italicus, dazu die Reden Ciceros im elegantesten Latein selbst verfasst haben kann [ebd.]. Bei Vitruv liegt der Fall etwas anders, waren doch auch vor dem Fund im Kloster St. Gallen zumindest Fragmente seines Architekturwerks im Abendland bekannt.

„Im 13. Jahrhundert erreichte das Interesse an Vitruv seinen Höhepunkt, als es von Vinzenz von Beauvais in der bedeutendsten Enzyklopädie des Mittelalters, dem Speculum Maius, dem »Großen Spiegel«, systematisch zusammengefasst wurde“ [Klug, 77].

Vinzenz von Beauvais hat dieses ‚Speculum Maius‘ 1247 oder 1260 geschrieben. In dieser Zeit könnte sich bereits die eine oder andere Geistesgröße Gedanken über die Körperproportionen gemacht haben. Doch wer hat darüber etwas geäußert? Die Zahlensymbolik hilft uns nicht weiter, weil sowohl die 6 wie die 7 von herausragender Bedeutung sind:

Sechs galt wegen der Tatsache, dass sie sowohl das Produkt der ersten ganzen Zahlen (1 x 2 x 3 = 6) als auch deren Summe ist (1 + 2 + 3 = 6) als vollkommenste Zahl, als erste der „numeri perfecti“. Sie war die Zahl Christi als der Summe von Gottheit (1) und Welt (5). Christus wurde am 6. Wochentag zur 6. Stunde gekreuzigt. Das Christusmonogramm aus X [chi] und P [rho] war sechsarmig und Sechs war die (ursprüngliche) Zahl der Werke der Barmherzigkeit. 666 dagegen war die Zahl der höchsten Gegenmacht, der Bestie aus der Offenbarung Johanni (13,18). Sechs war auch die Zahl der Schöpfung (sechs Schöpfungstage, Erschaffung des Menschen am sechsten Tag). Die Bergpredigt Jesu nennt sechs Werke der Barmherzigkeit. Das aus zwei gleichseitigen Dreiecken gebildete Hexagramm, das Siegel Salomonis, hatte zauberische Macht. Augustinus schreibt in »De civitate Dei«: »Die Schöpfung wurde in sechs Tagen vollendet wegen der Vollkommenheit der Sechszahl, nicht also als hätte Gott eines Zeitraumes bedurft … sondern weil durch die Sechszahl die Vollkommenheit der Werke angedeutet wird.« – Ein Würfel ist durch sechs Flächen begrenzt, im Raume orientiert man sich nach sechs Richtungen: oben/unten, links/rechts/ vorne/hinten.

Sieben als die Summe von drei (Gott) und vier (Welt) wurde als heilige Zahl (numerus Creatoris et creaturae, numerus sacratus) gewertet, Septenare von der scholastischen Theologie in vielen Zusammenhängen bedacht: Bei den sieben Tagen der Schöpfung (sechs Schaffenstagen plus einem Ruhetag) der Schöpfungswoche, den sieben Erzengeln, den sieben Stufen des Salo­monischen Tempels, den sieben Armen des Leuchters (Menora), den sieben fetten und sieben dürren Jahren, den sieben Gaben des Hl. Geistes, den sieben Seligkeiten der Bergpredigt, den sieben Bitten des Vaterunsers, den sieben Sakramenten, den sieben Graden der Priesterweihe, den sieben Tugenden und sieben Todsünden sowie den sieben Siegeln der göttlichen Ratschlüsse über die Zukunft, den sieben Häuptern des »Tieres« und den sieben Posaunen der Apokalypse des Johannes. (Seine Offenbarung soll der Verfasser den sieben kleinasiatischen Gemeinden – Ephesus, Smyrna, Pergamus, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodikaia – verkünden. Dieser Auftrag erschließt sich ihm aus der Erscheinung des Auferstandenen mit sieben Sternen in der Hand, umgeben von sieben Leuchtern.) Im profanen Bereich kannte man sieben Himmelssphären, sieben »babylonische Planeten« (Jupiter, Merkur, Saturn, Sol, Venus, Mars, Luna), sieben Wochentage, sieben Artes liberales, sieben »Werke« der Alchemie, sieben Stufen der Tonleiter usf.“ [Zahlensymbolik; Hvhg. HI]

In Frage käme die Practica Geometriae des Hugo von St. Viktor (um 1097–1141), doch liegt mir keine verwertbare Proportionsangabe vor.

„Im Prolog formuliert der Autor seine Absicht […], unseren Schülern nichts neues verfertigen, sondern altes, verstreutes sammeln. Dies steht im Zusammenhang des frühscholastischen Schulbetriebs, d. h. nicht zufällige Lesefrüchte werden geboten, sondern ein geordneter Lehrstoff. Hierzu teilt Hugo von St. Victor die Geometrie in eine theoretische […] und eine praktische“ […,] die Instrumente benutzt und die verschiedenen Proportionalitäten beurteilt[wiki: Practica geometriae (Hugo von St. Viktor)].

Zeising [48] hat erst im 15. Jh. wieder eine explizit benennbare Körperrelation gefunden: Leon Battista Alberti (1404–1472) konstruierte wie Vitruv aus 6 Fußlängen den Körper. Alberti trat hier doppelt in die Fußspuren Vitruvs, schrieb er doch ebenfalls ein groß angelegtes Lehrbuch in zehn Bänden über das Bauwesen.

Leonardo da Vinci (1452–1519) hat Vitruv sehr wohl gekannt. In seiner Schrift „Proportionsstudie nach Vi­truv“ von ca. 1492 hat er ihn zunächst mit dem Maß zitiert, wonach die Körperlänge 6 Fußlängen entspricht. Er drückte das so aus: 1 Fuß = 4 Handbreiten und 1 Körperlänge = 24 Handbreiten [Schröer/Irle, 72]. Gleich daneben hat er seine eigene Maßregel niedergelegt: „Der Fuß sei der siebte Teil des Menschen“ [ebd. 74]. Wir übergehen hier die von Schröer und Irle gefun­dene iterative Lösung der Quadratur des Kreises, die sie aus Leonardos weltbekannter Propor­tions­studie herauslesen, dem eigentlichen Thema ihres Buchs, sondern registrieren erstaunt, dass Leo­nardo das Körpermaß mit 7 Fuß ansetzt.

Einhard hat für seine 7 Fuß sicher keine eigenen Proportionsstudien durchgeführt, selbst wenn er als Architekt gearbeitet haben soll. Von wo könnte er die „7“ bekommen haben? Geklärt ist nur, dass Karl abseits von Einhard auf einem genügend großen Fuß gelebt hätte, denn Vitruvs Proportion gönnte ihm einen um gut 4 cm oder mehr als 16 % längeren Fuß:
1,82 m : 7 = 0,26 m
1,82 m : 6 = 0,30333 m.

Albrecht Dürer (1471–1528) konstruierte sich eine Linie für die gesamte Körperlänge, „nahm dann von dieser Linie erst die Hälfte, dann ein Drittel, dann ein Viertel, dann ein Fünftel u. s. w. und setzte dann Linien von diesen verschiedenen Maassen neben jene erste Linie….“ [Zeising, 68]. Zu unserem Vorteil gab er die Körperlänge auch in Fuß an: „Der Fuss ist lang 1/6“, bezogen auf die Körperlänge des Manns, „1/12 u. 1/13“ auf die der Frau [Zeising, 70].

„Dürer zeichneten jedoch seine systematischen Versuche aus, hierfür allgemeine mathe­matische Regeln zu finden, und im Gegensatz zu Leonardo da Vincis anatomischen Arbeiten war Dürers mathematische Behandlung des menschlichen Körpers jahrhundertelang äußerst einflussreich“ [docplayer, 21].

Nach Leonardo und Dürer entwickelten sich die Schemata weiter. So schlug Heinrich Lautensack 1618 vor, den Menschen „in acht gleiche Theil“, die er mit 5 auf 40 Teile multipliziert, um ein Teilchen reduziert: „so bleiben noch 39. theil / diß ist die gantze Mannsleng / von der scheitel biß an die solen“ [Lautensack, 32]. Hier ist in Bezug auf die Fuß-Relation nichts mehr zu gewinnen.

Das Proportionsmaß – 6 Fuß für die menschliche Körperlänge – reicht also vom Alten Reich Ägyptens über Vitruv bis zu Albrecht Dürer im 16. Jh.? Warum scheren nur Einhard und Leonardo da Vinci, vielleicht 650 Jahre voneinander getrennt, mit 7 Fuß aus dieser Reihe aus?

Literatur

Amt, Stefan (2017): Von Vitruv bis zur Moderne – die Entwicklung des Architektenberufes; https://www.bhb-hannover.de/wp-content/uploads/2017/02/in_Druck_Entwicklung_Architektenberuf.pdf [1]

Corradini, Richard (2004): Überlegungen zur sächsischen Ethnogenese anhand der Annales Fuldenses und deren sächsisch-ottonischer Rezeption; in Pohl, Walter (Hg. 2004): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters; Denkschriften, 211-231; https://www.austriaca.at/0xc1aa5576_0x0006a5c5 [2]

Dürer, Albrecht (1528): Vier bücher von menschlicher Proportion oder Hierin sind begriffen vier Bücher von menschlicher Proportion, durch Albrechten Dürer von Nürnberg erfunden und beschriben, zu nutz allen denen, so dieser Kunst lieb tragen. 1528; Nürnberg

docplayer = https://docplayer.org/39729159-1-1-albrecht-duerer-unternimmt-den-ersten-versuch-mithilfe-der-mathematik-die-proportionen-des-menschlichen-koerpers-zu-bestimmen.html [3]

Einhard (1968/81): Vita Karoli Magni ˑ Das Leben Karls des Großen ˑ Lateinisch/Deutsch ˑ Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow; Reclam, Stuttgart

Illig, Heribert (2020): Gregors Kalenderreform 1582 ˑ Cäsar, Nikäa und zwei päpstliche Notlügen; Mantis, Gräfelfing

(2019): Karl der Große: krank, kraft- und knochenlos; http://www.zeitensprünge.de/?p=26 [4]

(2017): Des Kaisers leeres Bücherbrett ˑ Wer bewahrte das antike Erbe? Mantis, Gräfelfing

(42014): Aachen ohne Karl den Großen ˑ Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Mantis, Gräfelfing (12011)

– (1998): Das erfundene Mittelalter; Econ, München (11996)

Klug, Sonja Ulrike (2020): Zauberer des Zirkels. Die Frage nach den Bauplänen des Mittelalters; na-Verlag (Nünnerich-Asmus), Oppenheim; https://www.na-verlag.de/wp-content/uploads/image/Leseprobe_Zauberer-des-Zirkels.pdf [5]

Lautensack, Heinrich (1618): Deß Circkelß vnd Richtscheyts, auch der Perspectiva, vnd Proportion der Menschen und Rosse …; Schamberger, Franckfurt am Mayn

Martin, Paul C. (1993): „Karl der Große (Schuhgröße 42) ˑ Hat er nie gelebt?“ BILD, 20. 08.

Patzold, Steffen (2013): Ich und Karl der Große ˑ Das Leben des Höflings Einhard; WBG, Darmstadt

Pippal, Martina (32010): Kunst des Mittelalters – Eine Einführung: Von den Anfängen der christlichen „Kunst“ bis zum Ende des Hochmittelalters; Böhlau, Wien

Schröer, Klaus / Irle, Klaus (1998): „Ich aber quadriere den Kreis …“ ˑ Leonardo da Vincis Proportionsstudie; Waxmann, Münster u.a.

Schuler, Stefan (1999): Vitruv im Mittelalter: Die Rezeption von „De architectura“ von der Antike bis in die Frühe Neuzeit (Pictura et Poesis, Band 12); Böhlau, Köln 

Stock, Günter (o.J.): 2. Der Aachener Dom und sein Umfeld. Hier: 2.2. Das Wissen am Hofe Karls; http://www.sinnvolle-entwicklung.homepage.t-online.de/sa_e2.htm [6]

Vitruv (2004): De Architectura Libri Decem ˑ Zehn Bücher über Architektur; Marix, Wiesbaden (11904)

wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/ [7] gefolgt von der Artikelbezeichnung

Wirth, Karl-August (1967): Bemerkungen zum Nachleben Vitruvs im 9. und 10. Jahrhundert und zu dem Schlettstädter Vitruv-Codex; in: Kunstchronik, Jg. 2 = (9) 281-291

Zahlensymbolik = https://www.mittelalter-lexikon.de/w/index.php?title=Zahlensymbolik&oldid=40801 [8]

Zeising, Adolf (1854): Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers, aus einem bisher unerkannt gebliebenen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Grundgesetze entwickelt und mit einer vollständigen historischen Uebersicht der bisherigen Systeme begleitet; Weigel, Leipzig