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Theudelinde, Goldhühner und die Plejaden Zu den Zeiten bis 614, Teil 2

von Heribert Illig

Theudelindes Tod wird in den Jahren 626, 627 oder 628 angesetzt. Steht ihr Sarkophag noch in jenem Dom zu Monza, dessen Vorgängerbau sie gegründet haben soll? Ja, es gibt einen aufgeständerten ‚Fleischfresser‘, wie die Griechen despektierlich die Steinsärge nannten. Doch dem steht eine Überlieferung entgegen: 1308 wurde ihr Grab geöffnet, das sich jedoch unter Bodenniveau befunden hat. Nun erst dürfte eine Umbettung in den antiken Sarkophag erfolgt sein. Die Überlieferung will auch wissen, dass Theudelinde, ihr bereits verstorbene Gatte Agilulf († 615/16) und ihr Sohn Adaloald († 626/28) gemeinsam bestattet worden seien. Sichere Kunde gibt es nur von der Sarkophag-Öffnung im Jahr 1941. Sie erbrachte eine eiserne Lanzenspitze, wenige Beschlagstücke, ein Tongefäß und diverse Niete. Günter Haseloff [374] stellt fest: „Die im Sarkophag gefundene Lanzenspitze spricht eindeutig für eine männliche Bestattung“, ein menschlicher Zahn verweist auf ein jugendliches Individuum, doch für Theudelinda spricht nur die schriftliche Überlieferung. Gleichwohl fällt Haseloff dieses Urteil:

„Es darf daher als sicher gelten, daß in dem Sarkophag Theodelinda und Adaloald bestattet waren, während sich für Agilulf kein unmittelbarer Beweis erbringen läßt.“ [ebd.]

Korrekterweise erwähnt der Kunsthistoriker keine Grabbeigaben, deren Herkunft er nicht überprüfen konnte. Denn in Monza wurde auch tradiert, dass bei der Graböffnung von 1308 verschiedene Gegenstände der Grabstätte entnommen worden seien. Hermann Dannheimer [345] zählt sie auf:

„einen mit Steinen und Goldfiligran gefaßten Knochenkamm, einen ursprünglich purpurgefärbten und bemalten Pergamentfächer, der in einem mit getriebenem Rankenornament geschmückten silbernen Behälter aufbewahrt wird, und die Henne mit den sieben Küken. Die Tiergruppe, ein Tafelaufsatz, ist ursprünglich wohl eine spätantike Arbeit. Wie sie in den Besitz Theo­delindes gelangt ist, ist nicht bekannt. Auch ist die Auffindung in ihrem Grab wohl nicht ganz sicher verbürgt.“

Glucke mit sieben Küken [tuttosullegalline; fast alle im Internet verfügbaren Fotos zeigen Repliken]
Glucke mit sieben Küken [tuttosullegalline; fast alle im Internet verfügbaren Fotos zeigen Repliken]
Glucke mit sieben Küken [tuttosullegalline; fast alle im Internet verfügbaren Fotos zeigen Repliken]
Glucke mit sieben Küken [tuttosullegalline; fast alle im Internet verfügbaren Fotos zeigen Repliken]

Bei der Tiergruppe handelt sich um eine vergoldete Silberschmiedearbeit; ihr Durchmesser beträgt 46 cm, die Höhe 26,5 cm. Die Augen der Küken bestehen aus Saphiren, die der Henne aus Granat:

„Die auf einer großen Scheibe verteilten Tiere picken die darauf verstreuten Körner auf. Die Figuren sind hohl getrieben und nachgearbeitet. Dabei ist das Gefieder stark stilisiert wiedergegeben. Trotzdem sind die Unterschiede zwischen dem Flaum der Küken und den Federn der Glucke deutlich zu erkennen. Das linke Auge der Henne trägt die eingravierte Darstellung eines Fußkämpfers mit Helm, Lanze und Mantel. Die Entstehung wird im mediterranen Bereich vermutet“ [Dannheimer2].

Nicht alle glauben an einen Tafelaufsatz, der für die damalige Zeit wohl singulär gewesen wäre, und geben auch andere Begründungen:

„es ist das Bild der Landesmutter, die sich um die sieben Grafschaften ihres Königreiches sorgt, oder das der Gründerin der Hauptkirche von Monza und ihrer sieben Nebenkirchen“ [Flothow: Theodelinde].

Andere glauben zu wissen, dass es sich um ein Geschenk von Papst Gregor I. handelt [Schmid/Weigand, 35], was sich wohl daraus ableitet, dass Gregor etliche Geschenke nach Monza und zu Theodolinde geschickt hat, nicht zuletzt die berühmte eiserne Krone der Langobarden, die selbstverständlich nicht aus Eisen besteht, sondern einen eisernen Nagel vom Kreuz Christi enthalten soll, der jedoch aus Silber besteht [wiki: Eiserne Krone].

Bleiben wir bei den insgesamt acht Hühnchen. Der mitunter gnadenlose Jacob Burckhardt [1855], der selbst am Moses des Michelangelo herummäkelte [1938, 526], schreibt zwar über den Domschatz von Monza, übergeht jedoch das vergoldete Federvieh wortlos [1938, 850 f.].

Der Kunsthistoriker Hermann Knackfuß hatte 1888 noch keinen Zweifel an der Zeitstellung und an der direkten Zuordnung an Theudelinde. Allerdings schloss er eine langobardische Arbeit aus:

„so vermag doch niemals die Kunst eines jugendlichen Volkes die Natur in einer mit ihrer wirklichen Erscheinung so übereinstimmenden Weise wiederzugeben, wie es hier geschehen ist; jede ursprüngliche Kunst stilisiert, d. h. sie übersetzt die unendliche Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen in bestimmte, sich dem Gedächtnis leicht einprägende Formen“ [Knackfuß 1888, 35].

Nur neun Jahre später kam derselbe Lehrer für Kunstgeschichte zu einem ganz anderen Urteil, das zu vertreten Mut verlangte und dementsprechend zu würdigen ist. In seinem neuen Buch schildert er zusammen mit Max Zimmermann die Zeit des Bildhauers Benedetto Antelami (ca. 1150– ca. 1230) und datiert verschiedene Artefakte in seine Lebenszeit um:

„Reliefs am Ciborium von Sant’Ambrogio zu Mailand, das nicht, wie bisher angenommen, das alte des 9. Jahrhunderts ist, sondern erst aus der ersten Hälfte des 13. stammt. […] Zwei fälschlich der Zeit Theudelindes zugeteilte Werke: das Tympanon am Dom zu Monza und die goldne Henne mit den sieben Küchlein in derselben Kirche. An der goldnen Henne wirkt die Formgebung dieser Zeit erfreulich als Stil ebenso wie in geringerm Grade bei dem verwandten Johannesadler an der Kanzel des Guido Bigarelli aus Como in S. Bartolomeo zu Pistoja“ [Knackfuß/Zimmermann 1897, 501 f.].

Eine derartige Einschätzung lässt sogar Emerich Schaffran gelten, der während des Zweiten Weltkriegs eigentlich dem germanischen Ideal verpflichtet gewesen wäre, aber ganz objektiv blieb:

„Kirchliche Gegenstände der langobardischen Kleinkunst sind, besonders in der Frühzeit, das ist bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts, entweder im Schatten der antiken Kunst entstanden oder in einem damals vielfach üblichen Mischstil von byzantinischer und germanischer Kunst gearbeitet worden Beide Gruppen findet man in dem berühmten Schatz der Königin Theudelinde im Dom zu Monza. […] Ein hervorragendes Stück einer naturnachahmenden Kunst ist die schöne Gruppe der Henne mit ihren Küchlein, die Arbeit eines hochbegabten Goldschmiedes, den einige Forscher im Bereich der antiken, andere wieder in jenem der romanischen Kunst suchen. Ein Zusammenhang mit langobardischer Kunst liegt jedenfalls nicht vor“ [Schaffran, 127 f.].

Bald danach schwenkte die Kunstgeschichte zurück, waren doch Grabauffindung, päpstliches Geschenk und möglichst hohes Alter als Motive übermächtig. So schreibt der einfühlsame Eckart Pete­rich 1958 [393] von der Silberschmiedearbeit als von einer „Stiftung der Theudelinde“. Vielsagend wirkt das Schweigen eines Spezialisten für handwerkliche Techniken, von Helmut Roth [1986, 265], der glücklich sein sollte, eine so perfekte Tierdarstellung im frühen Mittelalter präsentieren zu können. Aber er ignoriert die Hühnerschar, obwohl er die eiserne Krone von Monza vorstellt und sie zwischen 800 und 850 belässt. En passant: Wikipedia leistet sich bei der „Eisernen Krone“ einen hübschen Lapsus, sieht sie doch zwei Entstehungsperioden:

„um 450/500 und um 800. Das würde eine Anfertigung in der Völkerwanderungszeit, also zur Herrschaft der Langobarden bestätigen. “

Die eiserne Krone der Langobarden [tuttosullegalline]
Die eiserne Krone der Langobarden [tuttosullegalline]

Fatalerweise sind die Langobarden erst 568 nach Cividale und damit nach Italien gekommen und bereits 774 von Karl dem Großen besiegt worden, der sich ab da König der Franken und der Langobarden nannte. Beide genannten Entstehungsperioden liegen also außerhalb der Langobardenzeit. Aber der Nimbus der Krone blieb: Noch Napoleon I. krönte sich, nein: 1805 ließ er sich 1805 mit ihr krönen.

Bei Fritz Baumgart [1988, 45] schwankt die Silbernagelkrone „zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert“, während die Hühnerschar „vielleicht eine Grabbeigabe der Theodelinde aus dem 6. Jahrhundert“ darstellt. Und so ist es geblieben, etwa bei Johannes Fried [2009, 39]. In Wikipedia, wie immer der herrschenden Lehre verpflichtet und alle anderen Meinungen ignorierend, finden wir den verunglückten Hinweis vom 18. 12. 2020:

„In ›dem Schatzhaus‹, der Kathedrale von Monza, findet man eine prächtig detaillierte Skulptur einer Mutter Henne und ihrer Küken aus vergoldetem Silber, was wahrscheinlich ein weiteres Geschenk von Papst Gregor war“ [admin].

Niemand muss den deutschen Satzbau beherrschen und niemand kann gegen seinen Willen überzeugt werden. Suchen wir lieber nach vergleichbaren Metallarbeiten. Material haben zwei große Ausstellungen in Brescia und Bonn geboten [Bertelli/Brogiolo 2000; Hegewich, 2008]. Doch nirgends findet sich auch nur ansatzweise zwischen 6. und 10. Jh. eine vergleichbare Silberschmiedearbeit. Als einziges Geflügel, ja einziges Tier ist ein aus Bronze gegossener, 6,7 kg schwerer Wetterhahn zu vermelden, [Bertelli/Brogiolo, 323, 329]. Warum er ins 8./9. Jh. datiert wird, obwohl es zu der Zeit noch keine Kirchtürme gab, muss offen bleiben. Auf jeden Fall ist es die einzige metallene Tierdarstellung, die man der fraglichen Zeit in Italien zuschreibt. Langobardische Tierdarstellungen in Steinrelief offenbaren nur die große Hilflosigkeit, wenn es um Stiere, Hirsche oder Löwen geht. Sie entstammen direkt der römischen Spätantike, die längst abgewirtschaftet hatte.

Fazit: Aus der Zeit um 600, auch aus den zwei Jahrhunderten davor und danach findet sich kein Gegenstück. Erst ab 1160 produziert das Abendland auch Tierdarstellungen, zunächst in Gestalt von aus dem Osten angeregten Aquamanilen [vgl. Illig, 178 ff.], um sich dann an immer feineren Arbeiten zu versuchen. So stoßen wir auf die getriebenen Figuren an den spätromanisch-frühgotischen Reliquienschreinen aus der Zeit um 1200 [ebd. 170 ff.]. Auch der Trivulzio-Kandelaber im Mailänder Dom spiegelt in derselben Zeit diese darstellerischen Fähigkeiten. Sein Bronzeguss kann zwangsläufig nicht so filigran gearbeitet sein wie eine getriebene Silberarbeit, aber er demonstriert die damaligen Fähigkeiten zur dreidimensionalen Gestaltung von Menschen und Tieren, auch von Fabelwesen.

Nach dieser Sichtung eines halben Jahrtausends lässt sich frühestens im späten 12. Jh. und dann im Spätmittelalter Theudelindes vermeintlicher Tafelaufsatz einreihen.

Köln, Dreikönigsschrein, 1190–1220
Köln, Dreikönigsschrein, 1190–1220
Köln, Dreikönigsschrein, 1190–1220
Köln, Dreikönigsschrein, 1190–1220
Karlsschrein, Aachen, 1182–1215 [wiki]
Karlsschrein, Aachen, 1182–1215 [wiki]

Neue Interpretation

Eine Glucke mit sieben Küken, die gemeinsam Körner aufpicken, könnte tatsächlich als Tafelaufsatz gedient haben. Nachdem hier die Verbindung zu Theudelinde gekappt und es auch keine schriftliche Nachricht zu dem Tafelaufsatz vor 1308 gibt, ist das Kunstwerk nicht vor dem späten 12. und auch noch deutlich später anzusetzen. Somit lässt sich auch nach einer anderen Symbolik als den sieben Herzogtümern unter ihrer Königin suchen. Das ist nicht schwer, braucht man doch nur zum Nachthimmel aufschauen. Die Plejaden sind eine unverwechselbare Sternengruppe, die je nach Schärfe der Beobachteraugen sechs bis neun Sterne umfasst und gemeinhin als Siebengestirn, als Taube, Atlantiden oder Sieben Schwestern bezeichnet wird. Es ist Zeitgeber für die Jahreszeiten: Um den 10. Mai ist es letztmalig im Westen noch sichtbar, um dann monatelang unterm Horizont zu bleiben. Dementsprechend erscheinen sie im Herbst erstmals am Morgenhimmel. So konnten sie als Signal für die Aussaat dienen, auch für das Aufkommen der Etesien, der Sommerwinde.

„Im Mittelalter trug der Sternhaufen der Plejaden Bezeichnungen wie »Glucken«, »Henne« oder »Gluckhenne«. Dahinter verbergen sich die Bilder des Nests einer Henne mit den Eiern bzw. einer Henne mit Küken (also einer Glucke), die unter ihren Flügeln die Schar ihrer Küken versammelt.“ [stilkunst]

Martin Luther stand vor dem Problem, im Deutschen eine Entsprechung für hebräisch „Khima“, die Plejaden zu finden und entschied sich für „Glucken“. „Das Wort Glucken kommt in der Lutherbibel von 1545 nur in der übertragenen Bedeutung für die Plejaden vor.“ So übersetzte er Hiob [9:9] mit: „Er machet den Wagen am himel und Orion und die Glucken und die Stern gegen mittag.“ Transkribiert: Er machte das Sternbild Großer Wagen am Himmel und die Sternbilder Orion und die Plejaden und die Sterne im Süden. Luther selbst erläuterte zu dieser Bibelstelle: „Die Glucken oder die Henne / sind die sieben kleine Gestirne“ [stilkunst]. Luther schuf hier nicht aus dem Nichts, sondern hatte eine andere Bibelstelle vor Augen:

„Jerusalem, Jerusalem, die tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ [Mt 23,37].

Damit wäre für die Silberschmiedearbeit sogar ein christlicher Bezug hergestellt, unerlässlich noch im hohen Mittelalter. Für Tischgeräte wie etwa Aquamanilen galt das allerdings nicht.

Wer es lieber Altnordisch hat, findet in der dortigen Mythologie für die Plejaden des Ausdruck „Freyas Hühner“. Das bezieht sich auf die Gemahlin Odins, die auch Frigga oder Frea genannt, allerdings auch von Freya wieder getrennt wird [wiki: Plejaden in Folklore und Literatur]. Dementsprechend konnte die Metallgruppe Himmelsgeschehen oder sogar Göttliches symbolisieren. Sofern sie tatsächlich 1308 in dem Sarkophag gefunden worden sind – doch das bleibt leere Vermutung –, hätten sie sogar mit dem Frühlingsbeginn an die Auferstehung des Fleisches erinnern können. Und die Legehenne wäre in diesem Fall ein Symbol für die Göttin der Liebe und der Ehe.

Nebra-Scheibe, um eine Goldapplikation ergänzt, mit einstiger mutmaßlicher Patina [wikiwand]
Nebra-Scheibe, um eine Goldapplikation ergänzt, mit einstiger mutmaßlicher Patina [wikiwand]

Nicht zuletzt finden sich die Plejaden unverkennbar als Siebengestirn auf der Nebra-Scheibe. Sie ist allerdings noch immer umstritten, auch wenn sie zum UNESCO-Weltdokumentenerbe in Deutschland gezählt wird. Im Museum in Halle wird die Datierung 2100 bis 1700 v. Chr. genannt, vorgetragen von Harald Meller. Im September 2020 veröffentlichten die Archäologen Rupert Gebhard und Rüdiger Krause ihre deutlich abweichende Altersangabe: 800 bis 50 v. Chr. Das wurde von Ernst Pernicka [2020; vgl. Brockschmidt] umgehend zurückgewiesen. Diese vier Forscher engagieren sich entweder für die Nebra-Scheibe oder für die mykenischen Funde in Bernstorf, streiten über den Altersprimat und die Echtheit der beiden Fundensembles [vgl. Illig 2017].