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Prof. Dr. Frank Benseler, 22. 9. 1929 – 22. 12. 2021

Eine posthume Danksagung durch Heribert Illig

Frank Benseler hatte von 1972 bis 1994 den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Paderborn inne, als Kommunist an der „katholischsten Universität des Landes in Paderborn“ [Winkler]. Hier begründete er 1990 die Diskussions-Zeitschrift mit dem Titel „Ethik und Sozialwissenschaften“ [EuS] und dem verblüffenden Untertitel „Streitforum für Erwägungskultur“; unter dem späteren Titel „Erwägen · Wissen · Ethik“ ist sie bis 2015 erschienen. Ich kann mich nicht über Benseler als engagierten Kenner von Georg Lukács oder als Mitherausgeber der Reihe „Soziologische Texte“ äußern, ebenso wenig über seine frühere Lektor-Arbeit beim Luchterhand Literaturverlag. Aber ich habe ihn als neugierigen Wissenschaftler erlebt, der die abwägende Kritik von neuen Gedanken auch noch nach seiner Emeritierung ermöglichte.

So erhielt ich für den 4. Juni 1996 die Einladung, an der Universität Paderborn meine Mittelalterthesen vorzustellen, auf die ersten Kritiken einzugehen und mich weiterer Kritik zu stellen. Unter den Zuhörern waren der Rektor, die zuständige Dekanin, der Mediävist Jörg Jarnut und natürlich Benseler. Hier also konnte ich erstmals an einer Universität meine Ideen verteidigen – davor konnte ich das nur im Rundfunkstudio gegenüber den Professoren Rudolf Schieffer und Friedrich Prinz. Nach Präsentation meiner Thesen ließ Jarnut bei meinen Fragen zur Aachener Bauhistorie durchaus Verständnis erkennen, konnte sich für einen ‚Täter‘ Otto III. nicht erwärmen, eher für Kaiser Konstantin VII., den ich ebenfalls als möglichen Urheber vorstellte. Ihm schienen 1.500 karolingische Münzen ausreichend für die historische Bestätigung einer Epoche, während ich den Bestand als falsch datiert bzw. zugeschrieben ansah. Jarnut rekurrierte dann auf sein Spezialgebiet, die Langobarden und ihre Zeit, und bezog sich auf Hunderte von Privaturkunden, die zu fälschen niemandem etwas gebracht hätte. So skizzierte er das paradoxe Bild eines Reiches, dessen gewichtigste Urkunden anerkannterweise zum großen Teil gefälscht sind und dessen Geldwirtschaft massiv bezweifelt wird, in dessen hintersten Abruzzentälern aber doch mit Münzen hantiert wurde und selbst kleine Grundstücksübertragungen per Urkunde abgesichert worden seien. Abschließend wurde sogar eine Utopie debattiert: Könnten für derartige Arbeiten Gelder der Deutschen ‚Forschungsgemeinschaft fließen?

Nicht lange danach lud mich die Redaktion von Benselers Zeitschrift ein, für das „EuS“ sieben Fragen zu formulieren, die dann von kontaktierten und kritikbereiten Spezialisten beantwortet würden, worauf ich abschließend antworten könne [Benseler u. a. 1997]. Die mühselige Organisation lag nun vorwiegend bei dem Philosophen und Logiker Dr. Werner Loh, der meine Fragen für den Druck prüfte und dann über 100 einschlägig arbeitende Wissenschaftler anschrieb. Von ihnen antworteten nur neun. Ich halte mir zugute, dass ich alle ihre Gegenargumente in meiner Replik entkräften konnte. Dieser lange EuS-Artikel ist noch heute aktuell, denn die Autoren meines Wikipedia-Artikels tragen unbeirrbar die Einwände meiner damaligen Kontrahenten vor, unterschlagen aber alle meine Antworten, um so zu dem Schluss zu kommen, ich wäre widerlegt [wiki: Heribert Illig].

Eine besondere Note brachte der Diplomatiker Prof. Theo Kölzer mit seiner hohntriefenden Antwort ein, wobei er der Zeitschrift sogar die Wissenschaftlichkeit absprechen wollte:

„Die Anfrage von EuS verwundert mich sehr, denn die Thesen von Herrn Dr. Illig sind so abstrus, daß eine Zeitschrift mit wissenschaftlichem Anspruch Gefahr läuft, sich lächerlich zu machen. An dieser Diskussion werde ich mich jedenfalls nicht beteiligen, obwohl ich Herrn Illig dankbar sein müßte: Durch seine Eliminierung größter Teile der frühfränkischen Geschichte wäre ich eigentlich der Mühe enthoben, die kritische Edition der merowingischen Königsurkunden fertigzustellen, die vor dem Abschluß steht. Über diese vermeintlichen Phantome mag Herr Dr. Illig ein weiteres Buch schreiben“ [Benseler u. a., 491].

Kölzer ließ sich im gleichen Jahr 1998 dafür feiern, dass er zwei Drittel der merowingischen Königsurkunden als Fälschungen ‚entlarvt‘ habe. Der zugehörige Spiegel-Artikel stand unter einer langen Überschrift:

„Schwindel im Skriptorium. Reliquienkult, erfundene Märtyrer, gefälschte Kaiserurkunden – Phantasievolle Kleriker haben im Mittelalter ein gigantisches Betrugswerk in Szene gesetzt. Neuester Forschungsstand: Über 60 Prozent aller Königsdokumente aus der Merowingerzeit wurden von Mönchen getürkt“ [Schulz].

Die EuS-Nummer wurde 1998 ausgeliefert. Damals erregten sich immer mehr Mediävisten und Angehörige anderer Fakultäten über meine These, während andere Mittelalterforscher den ganzen Schwindel aufdecken wollten. Deshalb wurde auf dem 8. Symposium des Mediävistenverbandes im März 1999 zu Leipzig eine spezielle Diskussionsrunde anberaumt: „‘Karl der Fiktive, genannt Karl der Große‘. Zur Diskussion um die Eliminierung der Jahre 614 bis 911 aus der Geschichte“. Die Thesen wurden zurückgewiesen, aber obendrein moralisch verdammt, da jugendgefährdend und Nazi-affin [vgl. Niemitz]. Damit war die Sprachregelung gefunden, um weitere Diskussionen abzuwürgen.

Später wollte Jarnut nichts mehr von der Paderborner Diskussion wissen, sondern schwenkte auf die offiziöse Linie ein, die alle Einwände gegen das mediävistische Lehrgebäude als „absurd“ abtat. 1999 ließ sich Jarnut vom Westfälischen Volksblatt mit „absolut absurd“ zitieren – ein beschämender, aber vor den Kollegen verständlicher Rückzug [Pistorius; vgl. Illig 1999, 617].

Damals hat auch Wikipedia seine Position bezogen, in Gestalt der Mediävistik-Abbrecherin Henriette Fiebig. Der Spiegel blickte 2010 zurück.

„Henriette Fiebig sagt, ein eingefleischter Wikipedianer habe solche Diskussionen schon dreimal durchgemacht, man komme nie zu einem Konsens: „Irgendwann hast du geschnallt: Wir suchen da letztlich die Wahrheit. Die gibt’s aber nicht.“ Eigentlich habe sie dieses Rechthabenwollen abgelegt, nachdem sie sich zweieinhalb Jahre mit den »Pappköppen im ,Erfundenen Mittelalter‘ herumgeschlagen« habe, den Anhängern einer Verschwörungstheorie, die besagt, dass die Jahre 614 bis 911 nie existiert hätten. Sie hat sich damals durchgesetzt“ [Rohr, 154].

Niemand war überrascht, dass sich bei Wikipedia eine dortige Mitarbeiterin durchsetzen konnte. Wenig überraschend ist es leider auch: Es gab und gibt zu wenige Denker wie Frank Benseler: kritisch, aber offen für Neues.

Literatur

Benseler, Frank / Blanck, Bettina / Greshoff, Rainer / Keil-Slawik, Reinhard / Loh, Werner (Hgg. 1997): Anfrage: Heribert Illig: Enthält das frühe Mittelalter erfundene Zeit? Stellungnahmen: Gerd Althoff, Werner Bergmann, Michael Borgolte, Helmut Flachenecker, Gunnar Heinsohn, Theo Kölzer, Dietrich Lohrmann, Jan van der Meulen, Wolfhard Schlosser. Replik Heribert Illig; Ethik und Sozialwissenschaften · Streitforum für Erwägenskultur; 8 (4) 481-520 (erschienen 1998)

Illig, Heribert (2011): Die Debatte um das erfundene Mittelalter. Stimmen der Gegner und seiner Verteidiger; Zeitensprünge, 23 (1) 29-50

– (1999): Mumpitz in Absurdistan. Über den von Mediävisten boykottierten Boykott der Mediävisten; Zeitensprünge, 11 4) 613-628

– (1996): Von der Karlslüge. Über die Fortsetzung einer wissenschaftlichen Debatte; Zeitensprünge, 8 (3) 327-336

Niemitz, Hans-Ulrich (1999): „Laßt diesen Gedanken nicht in die Köpfe der Jugend“ – oder Beobachtungen vom 8.  Symposium des Mediävistenverbandes; Zeitensprünge, 11 (2) 231-234

Pistorius, Andrea (1999): Dr. Heribert Illig irritiert Historiker. Karl gab es nicht; Westfälisches Volksblatt, Paderborn, 02. 10.

Rohr, Mathieu von (2010): Im Innern des Weltwissens. Wikipedia ist die größte Enzyklopädie der Welt und ein gigantisches Projekt: Das Menschheitswissen zusammengetragen und korrigiert von allen, die es nutzen. Doch hinter den Kulissen dieser Utopie arbeitet eine kleine, eingeweihte Schar, und sie führt erbitterte Kämpfe um die Wahrheit; Der Spiegel, 16/2010, 152-156; https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/70131151 [1]

Schulz, Matthias (1998): Schwindel im Skriptorium; Der Spiegel, 13. 07., https://www.spiegel.de/wissenschaft/schwindel-im-skriptorium-a-56bd6661-0002-0001-0000-000007937763 [2]

wiki = Wikipedia Freie Enzyklopädie: Artikel

Winkler, Willi (2022): Zum Tod des Lektors Frank Benseler; SZ, 03. 01.

Zeitensprünge: Alle Artikel dieser Zeitschrift sind unter http://www.zeitensprünge.de [3] zu finden.