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Das Gero-Kreuz ‒ aus 10., 11. oder 12. Jh.?

von Heribert Illig

2012 hat unter Leitung von Prof. Bruno Reudenbach die Referentin Johanna Hoffmann über das Gero-Kreuz als „Der älteste Monumentalkruzifixus“ referiert und dabei folgende Punkte hervorgehoben:

Der Korpus misst 187 cm in der Höhe und 166 cm in der Armspanne. Der vermutliche Stifter sei Erzbischof Gero, doch gibt es eine kleine Datierungskontroverse zwischen 970/76 und um 1000 (G. Binding). „Das ‚Gero-Kreuz ist das älteste erhaltene Monumentalkruzifix“. Es wird auf den Wunderbericht des Thietmar von Merseburg hingewiesen, wonach Gero durch Einlegen einer Hostie in den Riss im Haupt der Skulptur diesen schließen konnte. Die kolportierte Behauptung, im Hinterkopf habe sich ein Sepulchrum (Aufbewahrungsort für Reliquien) erhalten, ist längst widerlegt. „Ältere groß-plastische Bilder des Gekreuzigten sind aus karolingischer und merowingischer Zeit in schriftlichen Quellen bezeugt, jedoch nicht selbst erhalten“ [Hoffmann]. Soweit der trockene Bericht in diesem Pro-Seminar, der Literatur erst ab 1964 benennt. Ergänzend: Die auffällige goldene Strahlensonne hinter dem Kreuz stammt erst von 1683 und fehlt auf unserer Aufnahme.

Sog. Gero-Kreuz [Bauforschungonline.ch]
Sog. Gero-Kreuz [Bauforschungonline.ch]
Sog. Gero-Kreuz [pidner]
Sog. Gero-Kreuz [pidner]

Bei Hoffmanns Bericht ist die eigentliche Datierungsproblematik ausgeklammert. Denn die Kontroverse um das Entstehungsjahr 1000, die Günter Binding mitentfacht hat, ist bei weitem nicht von der Bedeutung, die eine frühere Datierung ausgelöst hatte. Über sie gibt z.B. Wikipedia [Gerokreuz] Auskunft.

„Erst 1924 und 1930 zog Richard Hamann Stilvergleiche mit verschiedenen ottonischen Plastiken, darunter die genau datierte Bernwardstür des Hildesheimer Doms von 1015, und brachte in zwei Arbeiten die Thietmar-Beschreibung erneut mit dem Kölner Kreuz in Zusammenhang. Hamanns Frühdatierung ins 10. Jahrhundert war ein Durchbruch für die Kunstgeschichte, die das Gerokreuz bis dahin dem 12. Jahrhundert zugeordnet hatte (u. a. bei Beenken)“ [wiki: Gerokreuz].

Hamann hat also durch Stilvergleich mit der Hildesheimer Bernwardstür geschlossen, das fragliche Kreuz sei nicht am Ende des 12. Jh., sondern fast 180 Jahre früher zu Beginn des 11. Jh. anzusetzen [Hamann 1924 lt. Syndicus, 19]. 1930 hat er dann in einer Fußnote [Hamann 1930, 18, Anm. 1] erstmals die Identität des Kruzifixes im Kölner Dom mit dem von Gero gestifteten Kreuz postuliert und die Kunsthistoriker davon überzeugt [Haussherr, 5]. Unmittelbar vor Hamann, ebenfalls 1924, betonte Hermann Beenken noch:

Kleines Bernwardskreuz [hildesheimer]
Kleines Bernwardskreuz [hildesheimer]

„Der plastische Reichtum etwa ottonischer Kleinkruzifixe, wie des Hildesheimer Bernwardkreuzes, ist von völlig anderer Art. Ihm fehlt die hier [beim sog. Gero-Kreuz; HI] gewonnene Klarheit der Gliederungen und die zielhaft gerichtete Schärfe aller Linienbewegungen“ [Beenken 1924, 214].

Bei Beenken [1924, 214] ist noch nicht von einem Gero-Kreuz die Rede, sondern nur von einem Kruzifix im Kölner Dom. Zu denken gibt, dass sich beide Kontrahenten auf je ein Werk aus Bernwards Hildesheim berufen und so einmal ins frühe 11. (dann sogar ins späte 10. Jh.), einmal ins späte 12. Jh. gelangen. Das wird ein Grund sein, demnächst auch die Bernward-Datierungen kritisch unter die Lupe zu nehmen.

Obwohl Hamanns Identitätssetzung ein Postulat geblieben ist, wird sie seitdem beibehalten. Dabei haben Matthias Untermann [1977] und dann Günther Binding [1982] vorgeschlagen, sich von der Anbindung des Kreuzes an Erzbischof Gero (969‒976) zu trennen und stattdessen von einem Lettnerkreuz aus der Zeit um 1000 auszugehen. Binding [2003] verteidigt seitdem diese Datierung.

Dendro-Datierungen

Den ‚Anti-Gero-Thesen‘ widerfuhr das Missgeschick, dass 1974 der Konstrukteur der deutschen Standardkurve der Eichenchronologie, also Ernst Hollstein, die Fällung des Holzes für den Korpus des Gero-Kreuzes bei 965 ansetzte. Das Prozedere für diese Datierung wirkt einigermaßen unwissenschaftlich, doch das Ergebnis passte exakt zu den Vorgaben.

„Die Untersuchung der Skulptur gestaltete sich komplizierter, da man aus restauratorischen Gründen weder Proben entnehmen noch eine so hohe Anzahl zusammenhängender Jahresringe messen konnte wie beim Kreuz[esbalken; HI]. Genaue Werte ergaben sich nur für die Jahresringe zwischen 647 und 779, weitere Jahresringsequenzen wurden nach Fotos vermessen und abgeschätzt. Die Wachstumsphase der Eiche begann folglich um 570; der Baum wurde etwa 400 Jahre alt. Hollstein schätzte die am weitesten außen liegende Stelle des geschnitzten Korpus am Stirnscheitel aufgrund dieser Erkenntnisse auf das Jahr 940. Auch hier ging er mit hoher Wahrscheinlichkeit und aus Erfahrung davon aus, dass zur Herstellung nur die etwa 25 Jahre umfassenden äußeren Splintholzjahrringe entfernt wurden und nicht wesentlich mehr an hochwertigem Kernholz verschwendet wurde; daraus ergibt sich eine Fällungszeit um das Jahr 965. Aufgrund der genannten Einschränkungen bei der Untersuchung schätzt Hollstein die Datierung der Skulptur zwar weniger gesichert als beim Kreuz ein, sieht sie aus wissenschaftlicher Sicht jedoch als »wahrscheinlich« an“ [wiki: Gerokreuz].

Hollsteins eigenes Urteil war durchaus skeptisch:

„Wie Hollstein abschließend selbst feststellt, kann man nicht mit Sicherheit ausschließen, »daß der Baum wesentlich später gefällt wurde«“ [Binding 2003, 2].

Mit dieser allenfalls wahrscheinlichen Datierung wurde Hamanns Frühdatierung zu einer ‚eisernen‘ Zahl. Binding bemühte sich mehrmals, die keineswegs gut begründete biologisch-physikalische Datierung bis ins letzte Jahrzehnt vor dem Millennium zu dehnen. Als bekannt wurde, dass beim Querbalken der jüngste Jahresring für 965 steht und die Fällzeit „mit Sicherheit zwischen 971 und 1012“ liegt, erhöhte Binding die Anzahl der weggeschnittenen Splintholzringe und justierte das früheste Fälldatum auf „ca. 985/1000“ [Binding 2011, 89; 2003, 3]. Damit würde aus dem Gero-Kreuz vielleicht sogar ein Heribert-Kreuz, amtierte doch der heiliggesprochene Kölner Erzbischof von 999 bis 1021 [ebd. 93 f.]. Doch man bleibt in Köln lieber bei Geros Todesjahr 976, zumal Hollsteins Ergebnisse trotz Binding nicht mehr in Frage gestellt wurden.

Es gibt aber ein ganz anderes Gutachten, das Hollsteins Können – er war der deutsche Pionier bei Entwicklung der dendrochronologischen Standardkurven – zu diesem Zeitpunkt fraglich erscheinen lässt, obwohl dieses Gutachten wegen der damaligen Interessenlage selbst fraglich ist.

Im Jahre 1999 wurde eine große Ausstellung ‚Krönungen‘ in Aachen für das Jahr 2000 vorbereitet und deshalb einmal mehr der Thron im Aachener Dom untersucht, obwohl Karl. d. Gr. 1200 Jahre früher nicht in Aachen, sondern in Rom zum Kaiser gekrönt worden war – dort ohne Thron. Im Aachener Thron liegen Eichenbretter, die sich dendrochronologisch bestimmen lassen. Das hatte der 1988 verstorbene Ernst Hollstein 1967 durchgeführt, anschließend wurde auch sein Meisterschüler Bernd Becker († 1994) um ein Urteil gebeten. Erst 1976 veröffentlichte Dombaumeister Leo Hugot das für Aachen ‚schreckliche‘ Ergebnis. Ein Fälldatum um 900 ließ auf einen Otto-Thron für das Jahr 936 schließen, weil er damals zum deutschen König gekrönt worden war, auch wenn ‚sein‘ Thron nicht auf der Empore, sondern in der Vorhalle gestanden hatte [wiki: Otto I. (HRR)].

1999 sollten die Dendro-Labore Trier und Hohenheim ihre alten Ergebnisse überprüfen, während sich jene von Köln, Hamburg, Göttingen und schließlich Kiel um eine neue Datierung bemühten.

„Die Resultate können wie folgt zusammengefaßt werden. Ernst Hollsteins Datierung kann nicht mehr nachvollzogen werden, die Unterlagen für die Datierung Beckers sind nicht mehr vorhanden. […] Der Aachener Thron wurde mit großer Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit der Erbauung der Aachener Marienkirche errichtet, darf also wieder als karolingisch gelten“ [Schütte 2000, 219 f., nachgedruckt bei Illig 2014, 60].

Geschrieben hat das Sven Schütte, damals zuständig für die Untersuchung des Throns. Das genaue Fälldatum der Hölzer hat er nicht mitgeteilt, weil er es seiner vielfach angekündigten Monographie zum Aachener Thron vorbehielt. Doch sie ist in den Jahren 2000 bis 2019 nicht erschienen. Allerdings gab es zur Thron-Ausstellung im Aachener Dom auf der Westempore eine Hinweistafel, die sich der Verfasser anno 2000 notiert hat:

„Das Fälldatum der Holzstücke liegt nicht um 935, sondern zwischen 760 und 824, mit der höchsten Wahrscheinlichkeit bei 798.“

Schütte hat im Jahr darauf in einem Zeitungsartikel mitgeteilt, wie dieses Jahr 798 so genau festgestellt werden konnte:

„Zur Sicherheit waren an dieser Untersuchung mehrere Analytiker, Dendrochronologen (die das Alter nach Jahresringen bestimmen – d. Red.) und Radiokohlenstoff-Forscher beteiligt. Statistiker rüttelten die Kurven – und siehe da: Der große Karl darf wieder Platz nehmen“ [Schütte 2001].

Seitdem weiß alle Welt: Wenn Schütte rütteln lässt … Wir haben also den Fall, dass Ernst Hollstein (aus heutiger Sicht) bei einer Datierung, die ebenfalls ins 10. Jh. fiel, um rund 150 Jahre irrte. Inwieweit Dendrochronologen von Wünschen oder Vorgaben freie Ergebnisse liefern, soll hier nicht thematisiert werden. Sonst müsste auch die Frage beantwortet werden, wie man am Aachener Dom aus Holzresten mit der Konsistenz von Watte präzise jene Datierung gewonnen hat, die dringend erwartet wurden [vgl. Illig 2014, 29-38].

Dendrochronologen können aber auch Ergebnisse vorlegen, die mit dem herrschenden Geschichtsbild völlig unvereinbar sind. Am elsässischen Odilienberg traten die Holzforscher erst nach der Jahrtausendwende in Aktion, zumal die sog. Heidenmauer im Wesentlichen aus länglichen Steinblöcken besteht. Es gibt aber auch größere Formate und regelrechte Megalithe, die man vorzugsweise in der Bronzezeit oder in noch früheren Zeiten suchen würde.

Heidenmauer am Odilienberg [odilienberg]
Heidenmauer am Odilienberg [odilienberg]
Aussparungen für Verbindungshölzer [wiki:commons]
Aussparungen für Verbindungshölzer [wiki:commons]

Aber in ihnen fanden sich schwalbenschwanzförmige Aussparungen eingemeißelt, sicheres Indiz dafür, dass die großen Steine mit entsprechend geformten Holzdübeln verbunden waren.

„Jüngste Untersuchungen (dendrochronologisch und nach der C14-Methode) von wiederaufgefundenen Eichenholzklammern, mit denen die Steine der Mauer verbunden waren, datieren diese zweifelsfrei in das letzte Viertel des 7. oder das beginnende 8. Jahrhundert n. Chr., eventuell stammen sie aus einer Reparaturphase, denn eine so späte Entstehung, in christlicher und nicht in heidnischer Zeit, war bisher nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden.

Noch sind die wichtigen Datierungsfragen offen, eine deutsch-französische Expertengruppe befasst sich mit der Auswertung aller Befunde“ [wiki: Odilienberg].

Dieser Hinweis steht seit 2003 auf der einschlägigen Wikipedia-Seite; die genannte Expertengruppe dürfte es mittlerweile aufgegeben haben, die Datierungen zwischen bronzezeitlich des 2. Jtsd. v. Chr., gallo-römisch und merowingisch des 8. Jh. zu ‚homogenisieren‘, da sich niemand vorstellen kann, dass um 700 eine uralt-heidnische Befestigungsmauer repariert worden wäre, zumal es im zwar schwach gewordenen, aber von außen seltsamerweise nie attackierten Merowingerreich keinen Grund für eine solche gewaltige Befestigungsanlage von rund 10 km Länge gegeben hätte. Nur 80 Jahre später wäre dann der Bau der Aachener Pfalzkapelle begonnen worden…

Wir wollen nicht diesem Rätsel nachgehen, sondern festhalten, dass Dendrochronologen im Verein mit Physikern Datierungen präsentieren, die entweder um viele Jahrhunderte daneben liegen oder aber so passend wie nur möglich sind, so nicht nur beim Aachener Thron, sondern auch bei Hölzern im Aachener Dom oder eben beim sog. Gero-Kreuz. Insofern müssen ihre Ergebnisse mit nicht geringerer Skepsis betrachtet werden als etwa kunsthistorische. Die Kunsthistoriker finden es aber sehr gut, wenn ihnen von Seiten den ‚eigentlichen‘ Wissenschaften, also von den Naturwissenschaften scheinbar makellose Ergebnisse geliefert werden, die nicht kritisierbar sind.

Dem Gero-Kreuz stilistisch verwandte Kruzifixe

Auf solch morschen Befunden gründen Bewertungen wie „Älteste deutsche Großplastik“ [Syndicus, 19] und sogar „der früheste erhaltene monumentale Kruzifixus“ [Haussherr, 5]. Steht das so gerühmte Gero-Kreuz für sich allein oder gibt es verwandte Kruzifixe?

Ein Gegenstück beherbergte Birkenbringhausen; es hängt jetzt im Marburger Universitätsmuseum und bringt den vorgewölbten Bauch, die gleichen Knie, eine nur etwas schwächere Körperspannung und einen ’Haar-Helm’ samt Strähnen auf den Schultern [vgl. Syndicus, 91] – doch es wird rund ein Jahrhundert später, zwischen 1066 und 1100 gesehen!

Birkenbringhausener Kruzifixus [Kippenberger]
Birkenbringhausener Kruzifixus [Kippenberger]

Reiner Haussherr [23 f.] datiert es präzise bei 1070. Obendrein kennt er [Haussherr, 25-30] eine Reihe weiterer Repliken des Gero-Kreuzes in Brempt, Dietkirchen, Büsdorf, Benninghausen und St. Georg zu Köln, doch keines von ihnen vor 1050! Beenken hat sie alle ins 12. Jh. umdatiert:

„Kruzifix / Benninghausen bei Lippstadt / um 1170.
Das 1,75 m hohe Corpus aus Holz ist ebenso wie das des etwas jüngeren Kölner Gerokreuzes ([Nr.] 107) anscheinend Weiterbildung des Kruzifixes aus St. Jakob in Köln [= Kreuz aus St. Georg] frühes 12. Jahrhundert)“ [Beenken, 212].

Ein volles Jahrhundert nach dem Gero-Kreuz wird auch der Kruzifixus von St. Georg in Köln (heute im Museum Schnütgen) angesetzt; um 1067 oder sogar im letzten Drittel des 11. Jh. [schnütgen]. Der Torso zeigt dieselbe Bogenspannung, einen ähnlichen Lendenschurz und die Haarsträhnen auf der Schulter, dazu eine ähnliche Haartracht, wenn auch gescheitelt.

Kruzifix von St. Georg, Köln [schnütgen]
Kruzifix von St. Georg, Köln [schnütgen]

Der Naturalismus der Körperformen ist noch nicht so weit getrieben wie beim Gero-Kreuz. Die Datierung auf 1067 hat F. Witte 1932 einfach aus der Kirchweih von St. Georg gewonnen, während Johanna Pfeiffer 1938 für 1120/30 plädiert hat [Syndicus, 43]. Wir bleiben hier vorsichtig bei zunächst 1070 [St. Georg]. Beenken sah mehr Spielraum:

„Torso eines Kruzifixes / Köln aus St. Jakob z. Zt. Schnütgen-Museum 1. Viertel 12. Jahrhundert.
Wohl das älteste erhaltene lebensgroße Holzkruzifix (1,90 m hoch). Bisher vielfach fälschlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts datiert, wogegen von Fr. Witte […] mit Recht die noch nahe stilistische Verwandtschaft mit ottonischen Goldschmiedearbeiten hervorgehoben wurde. Der Kopf verwandt dem einer Gandersheimer Stuckfigur, was ebenfalls die frühe Datierung bestätigt“ [Beenken, 58].

Der Herkunftsnachweis auf St. Jakob ließ sich nicht bestätigen, Fotografien zeigen die Identität des Kreuzes mit dem von St. Georg. Obwohl die Körperhaltung und -spannung dieselbe ist wie beim sog. Gero-Kreuz, verschiebt es Beenken aus dem späten ins frühe 12. Jh., während es heute noch weitere 40 Jahre früher gesehen wird. Trotzdem rangiert es ein volles Jahrhundert nach dem sog. Gero-Kreuz und bestätigt Hans Ulrich Haedeke:

„Ein direkter stilistischer Einfluß, den das Gerokreuz auf die Plastik der Folgezeit – von 975 bis etwa um 1040 – ausgeübt haben könnte, läßt sich nicht nachweisen. Wohl aber setzt um die Mitte des 11. Jahrhunderts – anscheinend unvermittelt– eine lebhafte Beeinflussung auf die Kruzifixdarstellungen des Rheinlandes ein“ [Haedeke lt. Binding 2011, 95].

Eine „lebhafte Beeinflussung“ nach erst 80 Jahren, also nach drei Handwerkergenerationen, darf erstaunen. Einer dieser Einflüsse erreicht beispielsweise das Helmstedter bzw. Essen-Werdener Kreuz. Hier handelt es sich um einen Kupferguss von 105 cm Höhe, der um 1060 ausgeführt worden sein dürfte [wiki: Helmstedter Kreuz]. Wie beim Gero-Kreuz handelt es sich um einen Gestorbenen mit geschlossenen Augen und vorgewölbtem Bauch. Dementsprechend wird geurteilt:

Helmstedter Kruzifix [wikipedia.org]
Helmstedter Kruzifix [wikipedia.org]

„Das Helmstedter Kreuz weist wie die meisten ottonischen Kruzifixe Einflüsse des Kölner Gerokreuzes auf, besonders in der Ausbildung der Bauch- und Brustpartie und in der Kopfhaltung, aber auch beim Lendentuch, das in der Grundform noch dem des Gerokreuzes entspricht, aber bereits nach Symmetrie strebt. Eine engere Verwandtschaft besteht zu den Kruzifixen am jüngeren Mathildenkreuz des Essener Domschatzes und am Kölner Hermann-Ida-Kreuz, die beide in Werden gegossen wurden.
Das Helmstedter Kreuz entstand somit in der Epoche der Salier. Die einsetzende Erstarrung des Körpers, der bei der ottonischen Plastik mehr organisch bewegt schien, markiert das Helmstedter Kreuz als Übergangsstück zur romanischen Plastik“ [wiki: Helmstedter Kreuz].

Für Beenken [38 f.] entspricht es der direkt anschließenden Zeit von 1065 bis 1080, weil noch die eigentlich plastische Durchgliederung fehlt. Die beiden genannten Großkreuze aus Bronze werden auf 1011 und 1049 datiert und damit in befremdenden Abstand zum Gero-Kreuz.

Beim Schlehdorfer Kreuz hat Dendro ausnahmsweise zu einer Verjüngung geführt. Aus stilistischen Gründen sah man dieses Kreuz bei 970, so alt wie das Gero-Kreuz. Seit 2017 sehen die Dendrochronologen das Holz des Korpus zwischen 980 und 1040 gewachsen. Da sie in diesem Fall von einer 50-jährigen Lagerzeit vor dem Schnitzen ausgehen, datieren sie es um 1100 [Näher]. Auch hier wird die Beliebigkeit von Dendro-Datierungen sinnfällig, die im Kern seit 1997 bekannt ist [Blöss/Niemitz].

Gerresheimer Kruzifix, 970 [Gruppe Köln]
Gerresheimer Kruzifix, 970 [Gruppe Köln]

Wenn man einen weiteren Kandidaten für das älteste Kruzifix nennen will, dann wohl das Gerresheimer Kreuz. Aus gegenwärtiger Sicht der Kirchengemeinde dieses Düsseldorfer Stadtteils stammt es von 960: ein bärtiger Christus mit einem Haarzopf hinter den Schultern, dazu mit einem Korpus von 2,10 m überlebensgroß. Die Augen vermutlich geschlossen, bärtig, ohne Rippen, das Haar wie beim Gero-Kreuz hinter einer Binde versteckt, möglicherweise Sitz einer Krone.

„Das über zwei Meter hohe Bildwerk dürfte um 960 gefertigt worden sein und zeigt noch heute Reste der ursprünglichen Bemalung. Auffallend sind die geringe Modellierung des Körpers und die weichen Züge des Antlitzes“ [margareta].

Im Jahr 1959 wurde dies veröffentlicht:

„Sein Rang wurde erst in den letzten Jahren erkannt. Erzbischof Gero schenkte das Holzbildwerk um 970 der Kirche. Es steht dem berühmten Gerokruzifix im Dom zu Köln nahe, dürfte sogar älter und der älteste monumentale Kruzifixus (Höhe 210 cm) der abendländischen Kultur überhaupt sein“ [Reclam, 159].

Da Gero sein Bischofsamt von 969 bis 976 innehatte, ist die Datierung auf 960 nicht, aber die auf 970 möglich. Mittlerweile ist das Kreuz restauriert worden, in Verbindung mit Datierungsversuchen. Der dendrochronologische Befund bleibt mit zweiter Hälfte des 10. Jh. unscharf [Peez], signalisiert aber die zeitliche Nähe zum Gero-Kreuz.

Ähnlich zeitnah wird das Mirakelkreuz von Elspe angesetzt, das sogar vom selben Künstler wie das Gero-Kreuz stammen soll. Allerdings führten 1975 verschiedene Abgleiche anlässlich der Ausstellung „Monumenta Annonis“ zu dem Ergebnis, es stamme erst aus dem 12. Jh. [wiki: Mirakelkreuz Elspe]. Doch das bezieht sich nur auf das Kreuzesholz (um 1175), während der Korpus laut Dendrochronologen um 989 geschlagen worden ist [wikibooks: Das Mirakel des Heiligen Kreuzes zu Elspe].

Mirakelkreuz von Elspe [wikibooks]
Mirakelkreuz von Elspe [wikibooks]

Das Diözesanmuseum von Osnabrück ordnet ein Kapitelkreuz dem 11. Jh. zu, weil auf ihm ein viel kleineres Kruzifix angebracht ist, das wegen dem sog. Gero-Kreuz diesem Jahrhundert zugeordnet wird:

„Am oberen Balkenende ist ein kleines goldenes Kruzifix befestigt. Es stammt vermutlich ebenfalls aus dem 11. Jahrhundert und steht dem Kölner Gerokreuz des späten 10. Jahrhunderts nahe, das als Vorbild für zahlreiche Kruzifixe der Folgezeit diente“ [Wehking].

Das kleine Kreuz auf dem Osnabrücker Kapitelkreuz [osnabrück]
Das kleine Kreuz auf dem Osnabrücker Kapitelkreuz [osnabrück]

Bei diesen als stilistisch verwandt erkannten Kruzifixen lohnt es sich, die orthodoxen und die abweichenden Datierungen aufzulisten. Angefügt werden noch vier Kruzifixe (kursiv gesetzt), die in den letzten Jahren erst dank Dendro-Datierungen unter die ältesten Großkreuze gerückt worden sind [vgl. Illig 2014, 43-48].

Kunsthistorische Datierung Beenken Dendro
(Fälldatum)
alternativ
960 Gerresheimer Kreuz      
970 Schlehdorfer Kreuz   1100  
976 Gero-Kreuz, Köln 1180‒1190 965 990‒1000
1011 Jüngeres Mathildenkreuz      
1022 Kl. Bernwardskreuz, Hildesheim      
1049 Hermann-Ida-Kreuz      
1060 Helmstedter (Werdener) Kreuz 1065‒1080    
1070 St. Georg, Köln 1120    
1070 Benninghauser Kreuz 1170    
1070 Birkenbrinkhausener Kreuz 1170    
11. Jh. Osnabrücker Kapitelkreuz      
1150 Udenheimer Kreuz   790‒1000 750
12. Jh. Mirakelkreuz von Elspe   989  
12. Jh. Volto Santo di Sansepolcro   679‒845  
1200 Enghausener Kreuz   890  
1200 Schaftlacher Kreuz   990‒1010  

[Details Illig 2018, 436-438].

Es lässt sich nicht übersehen: Die Spalte der dendrochronologischen Datierungen ist mit den bisherigen kunsthistorischen Datierungen unvereinbar. Dabei werden hier primär Großkreuze betrachtet, die gestalterisch vom Gero-Kreuz beeinflusst worden sein sollen. Drei Gruppen sind zu erkennen: die erste um 970, die problemlos zu verstehen ist; dann eine zweite zwischen 1060 und 1120; die dritte schließlich bei 1170. Stark gerafft: 970 ‒ 1070 ‒ 1170. Der Kunsthistoriker würde eigentlich nur eine einzige Gruppe erwarten, da er weiß, mit welcher Geschwindigkeit Fertigkeiten und Gestaltungskräfte z.B. bei Steinmetzen und Bildhauern um 1100 gewachsen sind. Da brachte jedes Jahr Fortschritte!

Beim Schaffen von drei nahe verwandten, aber zeitlich auseinandergerissenen Gruppen spielte sicher auch eine Sehnsucht herein. Bereits eingangs wurde Hoffmann zitiert, wonach es karolingische wie merowingische Großkreuze gegeben habe, die jedoch verloren seien. Diese Preziosen wollen von den Kunsthistorikern unbedingt rückgewonnen werden. Mit den neuen Dendro-Datierungen für das Enghausener Kreuz und das Volto Santo di Sansepolcro ist dies scheinbar gelungen. Allerdings hat das Gero-Kreuz seitdem alle Superlative verloren.

In einem Artikel aus dem letzten Jahr sah ich die Notwendigkeit, das sog. Gero-Kreuz neu zu bewerten, weil eine zeitliche Abfolge zu erkennen war: ein souverän stehender Christus vor dem Kreuz, ein zum Tod ermüdeter Jesus und schließlich der tote Jesus am Kreuzesholz, erkennbar auch an der jeweiligen Haartracht. Dem kann das Gero zugeschriebene Kruzifix nicht entsprechen, da es – als vermeintlich ältestes Großkreuz – bereits den toten Heiland zeigt. Deshalb wurde es von mir um ein Jahrhundert verjüngt und ins Jahr 1070 datiert [Illig 2018, 455]. Doch auch diese Jahreszahl muss im Lichte von Beenkens Überlegungen noch einmal überprüft werden. Das weist die Richtung für meine nächsten Überlegungen.

Literatur

Beenken, Hermann (1924): Romanische Skulptur in Deutschland · (11. und 12. Jahrhundert); Klinkhardt & Biermann, Leipzig

Binding, Günther (2011): Die Datierung der Kölner spätottonischen Skulpturen · Ein kritischer Forschungsbericht; in Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 72, 89-12

– (2003): Noch einmal zur Datierung des sogen. Gerokreuzes im Kölner Dom; in Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 64, 321-328. Online-Version mit eigener Paginierung von 1 bis 13; http://www.guentherbinding.de/Gunther_Binding/Downloads_files/gerokreuz.pdf [1]

– (1982): Die Datierung des sogenannten Gero-Kruzifixes im Kölner Dom; in Archiv für Kulturgeschichte 64, S. 63-77

Blöss, Christian / Niemitz, Hans-Ulrich (1997): C14-Crash · Das Ende der Illusion, mit Radiokarbonmethode und Dendrochronologie datieren zu können; Mantis, Gräfelfing

Hamann, Richard (1930): Studien zur ottonischen Plastik; in Städel-Jahrbuch 6, 1930, 5-19, Anm. 1 auf S. 18

– (1924): Grundlegung zu einer Geschichte der mittelalterlichen Plastik Deutschlands; in Marburger Jahrbuch 1, 1924, 15-18.

Haussherr, Rainer (1963): Der tote Christus am Kreuz · Zur Ikonographie des Gerokreuzes; Bonn (Diss. Bonn 1962)

Hoffmann, Johanna (2012): Das Gero-Kreuz · Der älteste Monumentalkruzifixus; in Reudenbach, Bruno (03. 05. 2012): Pro-Seminar an der Universität Hamburg, Kunstgeschichte; https://virt-sem-app.fbkultur.uni-hamburg.de/Das%20Gero-Kreuz.pdf [2]

Illig, Heribert (2018): Kreuz und Kruzifix · Eine sinnstiftende Betrachtung; Zeitensprünge, 30 (3) 426-467

– (42014): Aachen ohne Karl den Großen · Technik stürzt sein Reich ins Nichts; Mantis, Gräfelfing (12011)

Kippenberger, Albrecht (1952): Der Kruzifixus aus Birkenbringhausen; in Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 14, 41-44

margareta = Ottonisches Kruzifix; https://www.st-margareta.de/ottonisches-kruzifix.html [3]

Näher, Sabine (2017): Souveränität im Leid · Schwester Josefa Thusbaß hat eine enge Beziehung zum Schlehdorfer Kruzifix, das fast tausend Jahre alt ist.; SZ, 22. 08.

Peez, Marc (2010): Das Gerresheimer Kruzifix. Neue Ergebnisse zur Werktechnik einer ottonischen Monumentalplastik; in Denkmal-Kultur im Rheinland. Festschrift für Udo Mainzer zum 65. Geburtstag; Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege; Wernersche, Worms, 117-127

Schmierer, Julia (2009): Das Gerokreuz und seine Rückenaushöhlung; Grin, E-Book

schnütgen = http://www.museum-schnuetgen.de/Wege-durch-die-Sammlung?kat=30 [4]

Schütte, Sven (2001): Der Aachener Königsstuhl · Graffiti aus Jerusalem · Forscher beweist: Thron entstand doch schon zur Zeit Karls des Großen; in Kölner Stadt-Anzeiger, 02. 06.

– (2000): Der Aachener Thron; in Kramp, Mario (Hg. 2000): Krönungen · Könige in Aachen – Geschichte und Mythos (Katalog der Ausstellung in zwei Bänden); Zabern, Mainz, 213-222

Untermann, Matthias (1977): Die ottonischen Skulpturenfragmente von St. Pantaleon; in Jahrbuch des Kölner Geschichts-Vereins, 48, 279-290

Wehking, Sabine (1988): DI 26, Stadt Osnabrück, Nr. 3; www.inschriften.net [5], urn:nbn:de:0238-di026g003k0000307

Abbildungen

bauforschungonlin.ch = Germann, Georg (2011): Ethik der Denkmalpflege; http://bauforschungonline.ch/aufsatz/ethik-der-denkmalpflege.html [6]

gruppe Köln = http://www.gruppe-koeln.de/Restaurierung/OttonischesKruzifixGerresheim/ottonischeskruzifixgerresheim.html [7]

hildesheimer = https://www.hildesheimer-geschichte.de/die-kirche/die-hildesheimer-kirchen-1/kleine-bernwardskreuz/ [8]

Kippenberger s. Literatur

odilienberg = http://www.odilienberg-elsass.de/ [9]

osnabrück = http://www.inschriften.net/zeige/suchergebnis/treffer/set/100/nr/di026-0003.html [10]

pidner = http://religion-pidner.com/kunstgeschichte/christusbild/pages/10Gerokreuz.htm [11]

schnütgen = http://www.museum-schnuetgen.de/Wege-durch-die-Sammlung?kat=30 [4]

Wehking, Sabine (1988): DI 26, Stadt Osnabrück, Nr. 3; in: www.inschriften.net [5], urn:nbn:de:0238-di026g003k0000307

Wiki = https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Odilienberg_heidenmauer_verbindung.jpg [12]

Wikipedia.org