Karl der Große als ‚listenreicher‘ Regent? Steffen Patzold widerlegt sich selbst

Eine Rezension von Heribert Illig

P. = Patzold, Steffen (2020): Wie regierte Karl der Große? Greven, Köln, 128 S., davon 66 Textseiten, 6 Farbabb., 10,- €

Die Frage ist überaus berechtigt: Wie kann ein Riesenreich von einer Million Quadratkilometern regiert werden, wenn der reitende Bote die schnellste Verbindung zwischen zwei Orten darstellt. Pat­zolds Antwort überrascht: Die primären Regierungsinstrumente der Karolinger seien Per­gamentlisten und Kriege gewesen.

Kriege

„Krieg war der Kern ihrer Politik“ [P. 12], permanent Kriege. Patzold geht darauf nicht weiter ein. Nicht nur er übergeht, dass z.B. ein 30-jähriger Krieg gegen die durchwegs bäuerlichen Sachsen mit Sicherheit mangels Beute ein Reich zerstört hätte – nämlich das Fränkische Reich. Die paar Ochsenkarren voller Awarenschätze konnten dieses Fiasko nicht ausgleichen, zumal niemand Steuern zahlte [P. 13]. Außerdem musste der König bzw. Kaiser über den christlichen Glauben wachen, Voraussetzung für seine missionarischen Kriege gegen Bretonen, Dänen, Slawen, Sarazenen und Awaren. Auch die Sachsen mussten missioniert werden, deshalb das Blutgericht bei Verden an der Aller. Während dieses Geschehen noch heute manches Gemüt bewegt, sind Untaten gegen Christen völlig vergessen. Einmal das Blutgericht von Cannstatt: 746 ließ Karl Martells Sohn Karl­mann „viele tausend aufständische Stammesführer (mit Gefolgschaft) wegen Hochverrats festnehmen und hinrichten“ [wiki: Blutgericht zu Cannstatt]. In diesem Fall handelte es sich um bereits getaufte Alamannen. 761 hat dann Pippin d. J. die Stadt Clermont berannt; sie ging im Brand unter und wurde ausgemordet. Hier starben getaufte Aquitanier [Clauss, 9]. Aus Sicht des erfundenen Mittelalters sind beide Ereignisse fiktiv. Doch wir folgen im Weiteren Pat­zolds herkömmlicher Sicht.

Listen

Während die Markgrafen als Verwalter der großen Einheiten übergangen werden, beobachtet der Autor um 800 das Entstehen zahlreicher geschriebener Listen und erschließt daraus Karls bestes Regierungsinstrument: die Liste, das Inventar, die Aufstellung, die Kapitularien [P. 19]. Als scheinbar eindeutiger Beleg dient ihm eine zwei Meter lange Pergamentrolle, die sogenannte Descriptio mancipiorum von 813/14. Für 13 Güterkomplexe wird auf ihr jeder Bauernhof aufgelistet, auf jedem Hof sämtliche Bewohner ab dem Säugling, mit Alter und Ehestand, Naturalabgaben und Rechtsstand. Erfasst sind rund 900 Personen [P. 28]. Die Detailversessenheit bei einem doch überaus rasch wechselnden Zustand verblüfft.

Patzold bringt zahlreiche weitere Beispiele für Listen, ob von Unglückstagen, Bücherbeständen, Lateinwörtern, Glossaren, Todestagen oder Kalendernotizen. „Listen wurden in den Jahrzehnten um 800 wie selbstverständlich für viele verschiedene Zwecke genutzt“ [P. 34]. So waren auch die Königsboten mit Listen unterwegs, um jedes Leihegut minutiös zu erfassen.

„Angesichts der Größe des Reichs müssen wir uns eindrucksvolle Stapel von Pergamentblättern vorstellen, randvoll angefüllt mit Informationen über den Bauzustand von Kirchen und weiteren Gebäuden und über den Zustand von Land und Gerät aller Art“ [P. 36].

Von all diesen Pergamenten hat sich nur eine Zumeldung für den fiscus von Annapes erhalten; doch sie scheint nur eine Art Muster gewesen zu sein [P. 39]. Weiter führt Patzold auch das berühmte Capitulare de villis mit der seitenlangen Liste all jener Einzelpositionen an, die Amtsträger alljährlich an das „Palatium“ abzuliefern hatten. Etwas stutzig wird Patzold erst bei der Liste für alle Männer ab 14, die Karl einen Eid geschworen oder die als Geistliche ein Versprechen abgelegt haben.

„In den Weiten zwischen Katalonien und der Elbe mussten mehr als hunderttausend Männer auf den König vereidigt werden. Auch in diesem Fall also sollten viele Hunderte, wenn nicht Tausende von Pergamentblättern voller Namen zum Hof des Königs gebracht werden“ [P. 46].

„Nun kann man sich selbstverständlich fragen, ob alle diese Listen in der Praxis tatsächlich angefertigt worden sind. […] Unmöglich aber war die Umsetzung der kaiserlichen Befehle durchaus nicht“ [P. 47].

Allerdings wären „Tausende von Pergamentblättern“ mit all den Namen derer, die dem König den Treueid geschworen hatten, in einem Land völlig nutzlos gewesen, in dem es neben Vornamen keine Nachnamen zur Identifizierung gab [P. 53]. Wirklich stutzig wird Patzold nicht einmal dann, wenn es um Jerusalem geht, das Karl vielleicht beanspruchen, aber in keiner Weise beherrschen konnte. Sogar dort wären seine Listenersteller unterwegs gewesen, um jegliches Inventar zu erfassen:

„Auch in diesem Fall ist im Übrigen die Detailfülle bisweilen erstaunlich: So werden für manche Kirchen sogar die Maße, die Zahl der Säulen, die Größe des Dachs, die Zahl der Stufen usw. aufgelistet“ [P. 50].

Selbst der Klerus wird akribisch registriert: Priester, Mönche, Inklusen nebst ihrer Herkunftssprache: georgisch, syrisch, armenisch, griechisch, lateinisch, sarazenisch… [P. 55]. Trotz niemals ausschöpfbarer Detailfülle hält Patzold derartige Listen für einstige Realität und deshalb für Regierungswerkzeuge. Es begrüßt es geradezu, wenn im Jahr 806 nicht nur Leihegüter, sondern auch die Eigengüter jedes Leihenehmers besichtigt und geprüft werden [P. 53]. Karl wiederum begrüßte nicht nur das Ergebnis, sondern das Anfertigen der Liste selbst [P. 52].

Schließlich kommt Patzold zu den Listen des Herrschers, zu den „sogenannten Kapitularien“, wichtiges Regierungsinstrument Karls [P. 56]. Doch hier entzieht er seiner eigenen Argumentation den Boden! Für das Reich nördlich der Alpen wurden seit 1883 immerhin 70 Kapitularien in eine Liste gebracht. Nur „drei erhaltene Kapitellisten wurden zeitgenössisch einigermaßen sicher als capitularia bezeichnet“, die meisten Titel erst 1883 frei erfunden [P. 60 f.]. Ihre Inhalte sind mit ‚Kraut und Rüben‘ gut umrissen. „Das Wort capitularia war um 800 beileibe nicht für Rechtstexte reserviert, die vom Herrscher und seinem Hof ausgingen“ [P. 65]. „Keine einzige Kapitelliste der Zeit Karls des Großen liegt heute nämlich noch als »Original« vor“ [P. 66]. Wem es vor einer alles überwuchernden Buchhaltung graut, erfährt hier, wo ihr Anfang zu finden ist:

„Wir können zumindest noch in Ansätzen beobachten, wie […] Kapitellisten gesammelt, geordnet und in Bücher abgeschrieben wurden. Auf diese Weise entstanden nun also gewissermaßen Listen von Listen von capitula. Und gerade in diesem Format werden die Kapitellisten dann im Lauf des 9. Jahrhunderts in immer mehr Handschriften kopiert und zusammengestellt werden – in immer neuen Listen von Listen“ [P. 70].

Fazit: „Karl, der listenreiche“ [P. 74]. In seiner „Welt war beides wichtig: »heilige Bücher« u n d »Buchführung«“ [P. 75], während ein Konkurrent wie das byzantinische Reich ohne Listen auskam! [P. 76] Und so wird der große Karl nun auch noch zum Vater von Orwells Überwachungsstaat, dem nur „Excel oder das Internet“ gefehlt haben [P. 78]. Soweit Patzolds Gedankengang, der nur möglich ist, weil er jedem von Mediävisten datierten Dokument grundsätzlich vertraut.

Kritik aus Sicht des erfundenen Mittelalters

Schon beim ersten Belegstück, der Descriptio mancipiorum, meldet mit Nicolas Carrier [2019] ein anderer Autor mehr als berechtigte Zweifel an:

„Die Liste ist viel reduzierter als im Testament Abbos, denn die beiden Rechtsstellungen, die man fast ausschliesslich findet, sind die des colonus und des mancipium. Man stösst aber stattdessen auf technische Beschreibungen oder Berufsangaben wie Tagelöhner, Schäfer, Stallknecht, Schmied etc. Entweder das eine oder andere: Technische und rechtliche Bezeichnungen schliessen sich gegenseitig aus. Die Historiker haben sich vielfach gefragt, warum der Bischof von Marseille so peinlich genau nicht nur das Geschlecht, das Alter und die körperliche Verfasstheit seiner Abhängigen aufschreiben liess, sondern auch ihre berufliche Spezialisierung und schliesslich ihre rechtliche Lage verzeichnete“ [Carrier, 89 f.].

Die Frage nach Sinn und Zweck derart detaillierter Listen ist unabwendbar und unbeantwortbar, da viele Angaben rasch wechseln können und deshalb alljährlich erneut abgefragt und zugemeldet werden müssten. Hätte Karl weniger einen Militär- als vielmehr einen Archivstaat aufgebaut? Die Liste der Königsboten wäre bereits sehr lang, doch die Liste der Beschäftigten im Zen­tralarchiv würde immer länger. Doch keiner ihrer Namen wurde tradiert; das Hofarchiv ist ohnehin nicht erhalten [P. 50]. Generell wissen wir nichts über das „Palatium“, von der im Capitulare de villis wiederholt die Rede ist. Außer Pfalzkirche, Aula samt Turm und Verbindungsgang kennen wir keine den Karolingern zugeschriebenen Bauten in Aachen, nicht einmal Andeutungen von Grundrissen oder Hinweise auf ihren Standort. Selbstverständlich fehlt auch das riesige Archivgebäude für die Abertausende Pergamentrollen, das in Aachen errichtet hätte werden müssen. Dasselbe gilt für die umfangreichen Speicher, die laut Capitulare de villis das ständig herbeigebrachte Königsgut aufnehmen sollten.

Das Archiv hätte wahrlich groß sein müssen. Wenn Patzold von Namenslisten für über hunderttausend Männer spricht, kann er um den Faktor 20 bis 30 untertrieben haben, meint er vielleicht nur die Männer eines Jahrgangs. Denn man schätzt für Karls Reich um die 8 Millionen Einwohner [wiki: Fränkisches Reich]. Frauen, Mädchen und Knaben unter 14 abgerechnet, bleiben mit Sicherheit 2 bis 3 Millionen Männer, je nachdem, ob wir die Geistlichkeit mit ihren separaten Versprechen großzügig weglassen. Allein die Niederschrift der Namen von zwei bis drei Millionen Männern – mangels Nachnamen völlig nutzlos – würde eine riesige Rinderzucht samt Pergamentproduktion florieren lassen, um weit über den Nährwert hinaus die Unmengen an dringend benötigtem Schreibmaterial zu ermöglichen – nicht gerechnet die jährlichen Inventarlisten aller Königshöfe und sonstiger Herrensitze. Gleichzeitig war aber Pergament in der nachfolgenden, hochmittelalterlichen Realität so rar, dass man es immer wieder abschabte und neu beschriftete.

Wie oben erwähnt, ist für Patzold das Capitulare de villis ein Kronzeuge; es ist eine der Schriften, die sich zu Beginn explizit als „capitulare“ bezeichnen. Der Kommentar zu diesem Capitulare musste ob aller schreienden Ungereimtheiten zu einer beißenden Satire werden [Illig 2011]. Erwähnt seien daraus nur die vielen leichtverderblichen Speisen, selbst Fische, die laufend dem Kaiser anzuliefern waren [Art. 44], der jedoch wie ein Nomade von Pfalz zu Pfalz fuhr, um sie der Reihe nach abzuweiden. Also musste der Reiseplan Wochen oder Monate vorher bekannt sein, damit die Lieferungen pünktlich das Hoflager erreichen konnten. Auch mussten für die Deckhengste Einsatzlisten bereit liegen, angepasst an die Deckzeiten der Stuten aller Herrensitze [Art. 14]. Hengstfohlen hatten bis zum 11. 11. jedes Jahres zum uns unbekannten Zentralgestüt getrieben zu werden. Aus allen Königsbesitzungen musste bis zum Palmsonntag das gemünzte Geld der kaiserlichen Einkünfte ins Palatium gebracht werden. In Karls Orwell-Land galt laut Capitulare [Art. 69] sogar:

„Über die Häufigkeit des Vorkommens von Wölfen ist uns jederzeit zu berichten und dabei anzugeben, wie viele jeder Jäger erlegt hat. Die Felle sind als Belege einzusenden.“

Ihre Aktenablage im Palatium wurde durch die beigehefteten großen Felle deutlich erschwert, aber gleichwohl beherrscht. Die ganz großen Entscheidungen mussten Kaiser oder Kaiserin persönlich treffen, etwa: Auf welchem Königsgut sind junge Hunde auf Kosten des Gutes oder auf Kosten des Amtsmannes zu füttern? [Art. 58]

Es fällt schwer zu glauben, dass Mediävisten ernsthaft an Seriosität und Alter dieses Schriftstücks glauben. Meiner Meinung nach stammt es aus der Zeit zwischen 1250 und 1300 [Illig 2016, 63]. So ist Patzold zu den Kapitularien gegen seine eigene Meinung Recht zu geben, wenn er konstatiert:

„In einer Liste aus Karls Kaiserzeit heißt es bezeichnend hilflos am Ende: »Wer immer diese capitula hier hat, der soll sie an andere Missi [Königsboten] weitergeben, die sie nicht haben, damit keiner sich wegen Unwissenheit entschuldigen kann.« Für eine systematische, vom Hof aus gesteuerte Verbreitung, Dokumentation und Archivierung spricht diese Bestimmung wahrhaftig nicht!“ [P. 66].

Bravo: Da sollen sich Königsboten, die auf einem Terrain von einer Million Quadratkilometern unterwegs sind, gegenseitig abstimmen. Vielleicht war ja wenigstens das GPS schon erfunden…

Kapitularien sind also keineswegs das, was frühere Mediävisten gerne gehabt hätten:

„Quellenkritische Differenzierung zwischen solchen Texten tut um so mehr not, als wir in etlichen Fällen gar nicht mehr sicher sein können, wer genau eine betreffende capitula-Liste zu welchem Zweck ursprünglich einmal notiert hat: War es ein Königsbote selbst, der sich in Stichpunkten aufschrieb, was er in seinem Legatsbezirk verkünden sollte? War es ein Ratgeber des Kaisers, der zu diskutierende Punkte festhielt? Haben wir eine offiziell, etwa auf einer Versammlung, verabschiedete Verlautbarung des Kaisers vor uns? Oder sehen wir lediglich ein Exzerpt, also eine neue Liste, die erst ein späterer Sammler von capitula aus mehreren Vorlagen zusammengestellt hat?“ [P. 73]

Patzold Fazit:

„Historiker sind ihr [der klammheimlichen Klassifizierungskraft von Listen] zum Opfer gefallen und haben deshalb Karl dem Großen unterstellt, er habe sein gewaltiges Reich mithilfe von sogenannten Kapitularien regiert“ [P. 77].

Der scheinbare wertvollste Anteil der Listen ist unbestimmter Herkunft und damit kein königliches Mittel zum Regieren! Ich kenne keinen Autor, der eine wichtige These aufstellt und sofort wieder abräumt – und das im selben Buch! Wenn er [P. 76] sich schließlich erfreut zeigt, über karolingisches Wirtschaften so viel besser informiert zu sein als über das Wirtschaftsgeschehen in Ostrom, dann hat er übersehen, dass die oströmische Verwaltung – immer zen­tral von kompetenten Fachleuten am Bosporus geleitet – stets als die beste Europas gesehen wird.

Listen und Intellekt

„Schon der Versuch, halb Europa derart kleinteilig zu erfassen und zu kontrollieren, ist jedoch staunenswert“ [P. 78]. Ich erachte es hingegen für staunenswert, dass auch heutige Mediävisten einstigen Fälschern auf den Leim gehen. Einmal mehr müssen wir uns mit dem Denken im Mittelalter beschäftigen, mit dem Konflikt zwischen Arno Borst und Ivan Illich, mit der Intellektualisierung des christlichen Abendlandes. Für Borst [1995, 329] beginnt sie in der Karolingerzeit mit dem Lorscher Kalender. Wie hier Listen gestaltet wurden, hat ihn tief beeindruckt. Es beschäftigte ihn allerdings nicht, dass diese Fähigkeiten bald nach Karl erloschen, um im 12 Jh. erneut aufzublühen. Im scharfen Kontrast dazu beginnen für Illich [77 ff.] diese Fähigkeiten erstmals im 12. Jh., um nie wieder verloren zu gehen. Der Beginn liegt für ihn bei der Niederschrift des Buches „Didascalicon“, um 1128 durch Hugo von St. Viktor, wobei zeitgleiche Bücher anderer Autoren einen ähnlichen Rang beanspruchen können [vgl. Illig 2017, 234-236]. Illich spricht von Reihen und damit Listen; damit konform geht die Aufbewahrung von Schriften, die uns im Zusammenhang mit der Archivierung im Palatium, also in der ‚Aachener Zentrale‘ besonders interessiert.

„Hugo erwartet von seinem Schüler, daß er jeden Apostel in die Reihe der Apostel, jeden Patriarchen in die Reihe der Patriarchen einordnen kann und lehrt ihn, zwischen den verschiedenen Kolumnen hin und her zu rasen“ [Illich, 39].

Die neuen Darstellungsformen beziehen sich auch auf die von Patzold behandelten „Kapitel“ oder „Capitularia“:

„Das neue Seitenbild, die Kapiteleinteilung, Distinktionen, das konsequente Durchnumerieren von Kapitel und Vers, die neue Inhaltsangabe für das gesamte Buch, die Übersichten zu Beginn eines Kapitels, die dessen Untertitel benennen, die Einführungen, in denen der Autor erklärt, wie er seine Darlegung aufbauen wird, sie sind alle Ausdruck eines neuen Ordnungswillens“ [Illich, 110].

Und wie steht es nun mit den hochgelobten Archiven der Karlszeit?

Arca – etwas, in dem alles aufbewahrt werden kann: ein Kasten, eine Kiste, eine Truhe; auch ein Sarg oder die Arche Noah. Die arca des Klosters wurde in der Sakristei verwahrt und enthielt die Schätze: Kelche, Gewänder für die Liturgie; Reliquien, vor allem die verschiedenen Schädel und Gebeine von Heiligen in wertvollen Schreinen; und darüber hinaus auch Bücher. Erst im 11. Jahrhundert beginnt man, Bücher in speziellen, getrennten Archen, den Archiven zu verwahren, und erst am Ende des Jahrhunderts werden Bibliotheken üblich“ [Illich, 151 f.].

Ein Archiv bereits um 800 ist bestenfalls eine Wunschvorstellung, eine Rückprojektion. Eine Bibliothek um 800 ist ebenfalls abwegig [vgl. Illig 2017, passim]. Erst im 12. Jh. hat es eine intellektuelle Renaissance gegeben [vgl. bereits Haskins 1928], während eine solche für die karolingische Zeit auszuschließen ist. Jacques Le Goff hat diese Einsicht schon 1957 [= 1993; vgl. Illig 2017, 227] vertreten. Illich ist nicht auf die Idee gekommen, die Karolingerzeit zu streichen, aber intellektualisiert war sie ihm nicht vorstellbar. Für ihn entstand unsere Lesekultur im 12. Jh.; um 1990 sah er sie zu Ende gehen [Illich, 9, 11].

Leider war diese Blickerweiterung in Richtung 12. und 13. Jh. für Patzold nicht möglich, weshalb er sich in endlosen Listen verheddert. Unabhängig davon scheint es, als ob er in die Schuhe von Johannes Fried schlüpfen möchte, der bislang als Karls großer Mentor fungiert hat. Jetzt will ein genau 30 Jahre jüngerer Mediävist die unverändert bestehenden Widersprüche der Überlieferung zurechtbiegen. Insofern gewinnt Patzolds ungehobelter Buchtitel „Ich und Karl der Große“ [2013] an Gewicht.

Literatur

Borst, Arno (1998): Die karolingische Kalenderreform; Hahn, Hannover

– (1995): Das Buch der Naturgeschichte ˑ Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments; Winter, Heidelberg

Carrier, Nicolas (2019): Von der Sklaverei zur Leibeigenschaft ˑ Unfreiheit im Königreich Burgund vom 8. Bis 12. Jahrhundert; in Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte, Nr. 46 74-100

Clauss, Martin (2020): Militärgeschichte des Mittelalters; Beck, München

Haskins, Charles Homer (1928): The Renaissance oft he twelfth century; Harvard Univ. Press, Cambridge

Illich, Ivan (2010): Im Weinberg des Textes ˑ Als das Schriftbild der Moderne entstand; Beck, München (11990: L’Ere du livre)

Illig, Heribert (2017): Des Kaisers leeres Bücherbrett ˑ Wer bewahrte das antike Erbe? Mantis, Gräfelfing

– (2016): Ochs und Esel, Traubentreten. Zur Datierung des Capitulare de villis; Zeitensprünge, 28 (1) 59-66

– (2011): Capitulare de villis als Verwaltungsorgie; Zeitensprünge, 23 (2) 295-304

(1997): Arno Borst contra Ivan Illich; Zeitensprünge, 9 (3) 330-343

Le Goff, Jacques (1993): Die Intellektuellen des Mittelalters; dtv, München (11957): Les Intellectuels au moyen âge; Seuil, Paris)

Patzold, Steffen (2020): Wie regierte Karl der Große? Greven, Köln

– (2013): Ich und Karl der Große ˑ Das Leben des Höflings Einhard; Klett-Cotta, Stuttgart

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