Die Anfänge der Masoreten

von Heribert Illig

Die hebräische Tora, also die fünf Bücher Mose wurden und werden von jüdischer Gelehrsamkeit in einem Maße hochgehalten, wie es von den christlichen Kirchen nicht erreicht wird. Seit dem +1. Jh. ist ihr Text in Bezug auf die Konsonanten abgesichert und unveränderlich. Aber Glaube und Geist ruhten nicht, immer besorgt, das Wort Gottes könnte in irgendeiner Weise entstellt werden. Deshalb entwickelten die sog. Masoreten ein präzises System von Vokal- und Betonungszeichen, um die bei einer reinen Konsonantenschrift ständig möglichen Bedeutungsveränderungen zu vermeiden. Das Absichern des Textes wurde immer weiter getrieben, wurden doch die Worte und sogar die Buchstaben abgezählt (numerische Masora) [Achilles/10]. Eine neue Handschrift wird verworfen, wenn sie nicht exakt den vorgegebenen Zahlen entspricht oder sonstige Fehler enthält. Und die Masoreten vokalisierten nicht nur das Konsonantenkontinuum der hebräischen Bibel und gaben Hinweise für den mündlichen Vortrag. Beigefügt wurde die kleine und große Masora. Die kleine besteht aus Zeichen zwischen den Spalten. Dazu gehört z.B. die Angabe, dass sechs Mal in der hebräischen Bibel ein Satz mit den Worten „Da sprach JHWH zu ihm“ steht [Achilles/5]. Die große Masora über und unter den Spalten gibt dann die entsprechenden Stellen an. Das gilt für viele andere Begriffe, Worte und Wendungen [Achilles/9]. So entstand ein erstaunlicher Referenz­apparat an Querverweisen, der zu jedem selten gebrauchten Wort die Häufigkeit und die genauen Stellenangabe liefert. So gesehen, ist in einer Bibelrolle mehr als ein ganzes word-Programm enthalten [Achilles; auch JE: Masorah].

Wann ist dieses aufwendige System entwickelt worden? Wider Erwarten sind die Anfänge, ja die ersten Jahrhunderte der Masora (= Überlieferung) bei einem Volk der Schrift nur schlecht belegt. So ist bei Wikipedia [Masoretischer Text; dortige Hvhg.] zu lesen: Der Bibeltext

„ist Ergebnis der streng geregelten Bearbeitung älterer Bibel-Handschriften ungefähr in den Jahren 700 bis 1000 durch die Masoreten (Punktatoren, Nakdanim). Diese jüdischen Schriftgelehrten vokalisierten den seit Beginn des 2. Jahrhunderts fixierten Konsonantentext, markierten Varianten, andere Lesarten, Parallelstellen und vermutete Fehler mit besonderen Zeichen, die man als die Masora (Schreibweise auch Massora) zusammenfasst“.

Doch zu den Anfängen bringt bereits die nächste Quelle etwas anderes und dazu in sich Widersprüchliches. Einmal:

„Etwa ab 600 n. Chr. entwickeln jüdische Gelehrte…“

und gleich danach:

„Durch die überaus genaue wissenschaftliche Arbeit der Masoreten entstand etwa zwischen dem 6. und 8. Jh. der »masoretische Text«. [bibelwissenschaft]

Der Mediävist Arno Borst kommt in seinem mehrbändigen Werk über die ‚Ursprache‘ auf eine vermittelnde Jahresangabe:

„Die alte, buchstabengetreue Exegese gewann gleichfalls um diese Zeit an Kraft, nachdem seit dem 7. Jahrhundert durch die Arbeit der Masoreten die Verständlichkeit und genaue Wiedergabe des Bibeltextes gesichert worden ist“ [Borst, 200].

Borsts Urteil stammt von 1957, wird aber von gegenwärtigen jüdischen Quellen bestätigt:

„Die Masoreten waren jüdische Schriftgelehrte, die sich vom 7. bis ins 11. Jahrhundert hinein …“ [jüdisches Leben].

Doch das wird nicht von allen Juden so gesehen. So schreibt Noemi Berger [2016]:

„Die Masoreten […] entwickelten in der Zeit von 500 bis 1000 n.d.Z. ein System …“

Die Jewish Encyclopedia [Masorah] bringt gewissermaßen Aufklärung:  

„While the work as a whole is perhaps not earlier than the beginning oft he ninth century, its Masoretic portions probably go back to the sixth or seventh century“.

Die hier ironisch so bezeichnete ‚Aufklärung‘ besteht in den Worten „vielleicht“ und „wahrscheinlich“. Es muss also offen bleiben, ob die Masoreten ab 500, im 6. Jh., ab 600, im 7. Jh., ab 700 oder erst ab 800 tätig wurden.

Mehr Klarheit lässt sich vielleicht gewinnen, wenn man die Entwicklung der beiden masoretischen Gruppen oder Schulen verfolgt, die eine aus der babylonischen Diaspora, aus den Städten Sura und Pumbedita, die andere aus Tiberias in Galiläa stammend. An diesen Orten entstanden der Babylonische Talmud und der Jerusalemer Talmud. Beim „Talmud des Westens“ dominierten zwei Familien:

„Unter den westlichen Masoreten wurden die zwei Familien Ben Ascher und Ben Naftali aus Tiberias besonders bekannt. Sie entwickelten zwischen 780 und 930 ein eigenes System, um den ihnen überlieferten Bibeltext zu prüfen, gegen Abschreibfehler zu sichern, seine Aussprache festzulegen und vor willkürlichen Eingriffen zu schützen. Dieses System wurde in Europa vorherrschend.

Obwohl die Punktationsart der Familie ben Naftali weiter fortgeschritten erscheint, setzte sich mit Unterstützung durch Maimonides ab dem 11. Jahrhundert die der Familie ben Ascher in Europa durch“ [wiki: Masoretischer Text].

Maimonides lebte von ca. 1137 bis 1204, konnte also die Entwicklung tatsächlich nur unterstützen. Es lassen sich je nach Blickwinkel ab dem Frühmittelalter hebräische Bibelhandschriften mit Zusatzzeichen erwarten, zumal Bibelhandschriften besonders gut gehütet werden. Wie steht es mit der Familie ben Ascher, eine

„Familie von Masoreten, die über sechs Generationen hinweg bis Ascher den Älteren zurückverfolgt werden kann, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts in Blüte stand. Nur die Namen der Älteren sind sorgfältig bewahrt worden; der von Aaron ben Moses ist der erste, der im vollen Licht der Geschichte erscheint; mit ihm mag die Masora in einem gewissen Sinn als abgeschlossen betrachtet werden“ [JE: Aaron ben Moses ben Asher…; Übersetzg. HI].

Aaron ben Moses ben Ascher wurde nach 900 geboren und starb 960; nur hinter seinem Namen ist auch Leben zu erkennen. Doch auch jetzt bleibt es widersprüchlich. Seinem Vater Moses ben Asher traut man zu, den Codex Cairo von 895 geschrieben zu haben. Denn laut einer Nachschrift (Kolophon) gilt:

„»am Ende des Jahres 827 der Zerstörung des zweiten Tempels« (= 895 n. Chr.) von Mosche ben Ascher in Tiberias geschrieben und mit Punktation versehen“ [wiki: CodexCairensis]

Trotzdem weiß die Forschung [gegen wiki: Masoretische Texte]:

„Im Zuge des Hebrew University Bible Project (Malachi Beit-Arie et al., 1997) ist für den Codex Cairensis eine Datierung ins 11. Jahrhundert wahrscheinlich gemacht worden; damit ist der Petersburger Prophetenkodex von 916 n. Chr. älter“ [wiki: Codex Cairensis].

Geniza in Kairo [NZZ]
Geniza in Kairo [NZZ]
Fundsituation in Kairos Geniza [nzz]
Fundsituation in Kairos Geniza [nzz]

Dieser mit kleiner und großer Masora ausgezeichnete Petersburger Prophetenkodex wurde

„ 1876 von Hermann L. Strack in einer Faksimileausgabe unter dem Titel »Prophetarum pos­teriorum Codex Babylonicus Petropolitanus« publiziert. […] Mit seinem Entstehungsjahr 916 n. Chr. ist er etwa gleich alt wie der Aleppo-Kodex und fast 100 Jahre älter als der 1008 entstandene Codex Leningradensis, nur dass er eben nicht das ganze Alte Testament enthält“ [Kreuzer].

Der Petersburger Kodex gilt als ältester Bibeltext, obwohl er nicht den gesamten Text enthält. Gefunden wurde er von Abraham Firkowitsch in der Synagoge zu Tschufutkale auf der Krim [Kahle, XXVI]. Für den soeben genannten Aleppo-Kodex gilt nach der jüngsten Stellungnahme: Er

„stammt von 920 nach Christus und wurde in der Gegend um Tiberias (beim See Genezareth) von dem Schreiber Sch’lomo ben Buya’a abgeschrieben. Überprüft wurde der Text durch Aaron ben Mosche ben Ascher. Er vokalisierte den Text zudem und versah ihn mit masoretischen Anmerkungen.“ [bibelausstellung 2020]

Codex Aleppo als Beispiel für Vokalisierung, kleiner und großer Masora; ca. 920 [wiki: Masoretische Texte]
Codex Aleppo als Beispiel für Vokalisierung, kleiner und großer Masora; ca. 920 [wiki: Masoretische Texte]

Leider wurde der Kodex 1947 bei Kampfhandlungen beschädigt. Bis dahin war er „die älteste vollständig erhaltene Handschrift des Tanach“ [wiki: Masoretischer Text]. Als Tanach wird die Sammlung aus Tora (Weisung), Nevi’im (Propheten) und Ketuvim (Schriften) bezeichnet.

Mit dem Codex Leningradensis erreichen wir festeren Boden; ihm gebührt der Ruhm des ältesten vollständigen Bibeltextes. Der Name des Schreibers ist in einer Nachschrift (Kolophon) tradiert: Samuel ben Jakob aus Alt-Kairo (Medinath Mizrajim), der gleich fünffach datiert hat. In einem weiteren Kolophon wird darauf hingewiesen, dass Samuel nach dem bereits gestorbenen Aaron ben Mosche ben Ascher gearbeitet habe.

„»Dieser ganze Bibelcodex ist geschrieben mit Punktation und Masora und sorgfältig korrigiert in Medinath Mizrajim. Vollendet wurde er im Monat Siwan des Jahres 4770 der Schöpfung.| Das ist im Jahr 1444 nach der Verbannung des Königs Jehojachin, das ist im Jahre | (1)319 der griechischen Herrschaft (das ist die Ära der Seleuziden) und des Aufhörens der Prophetie. Das ist im Jahr 942 nach der Zerstörung des zweiten Tempels, das ist im Jahr 399 | der Herrschaft des kleinen Hornes« (Übersetzung: nach Harkavy/Strack, in diesem Werk S. 265)“ [Achilles/4].

Codex Leningradensis, um 1008 [wiki]
Codex Leningradensis, um 1008 [wiki]

Die Datierung ist gerade wegen der angestrebten Präzision in sich widersprüchlich und zeigt, dass die verschiedenen Ären zumindest damals nicht sauber abgestimmt waren:

„Der Kodex ist in Kairo entstanden. Shemu’el ben Ja’akov schrieb ihn für Rabbi Mevorak ben Josef ha-Kohen. Das Entstehungsjahr wird [im Kolophon, S.K.] nach verschiedenen Kalendern angegeben. Diese ergeben jedoch bei ihrer Übertragung in die heute übliche Zeitrechnung vier verschiedene Jahre: 1008, 1009, 1010 und 1013. Im Anschluss an Beit Arié, Sirt und Glatzer halten wir 1008 als Entstehungsjahr fest“ [Würthwein laut Kreuzer 2012].

Doch fünf Jahre Unsicherheit sind im Vergleich mit mindestens 100 Jahren beim Codex Cairensis vernachlässigbar. Aufgespürt hat auch diesen Codex Abraham Firkowitsch (1786–1874), der mit über 2.400 Handschriften die größte Sammlung hebräischer Handschriften zusammengetragen, sich aber auch einen speziellen Namen gemacht hat, weil er Daten in Handschriften und Grabsteinen gefälscht hat. Ihm ging es um den ‚Nachweis‘, dass die Karäer, eine jüdische Religionsgemeinschaft, schon früher auf der Krim gesiedelt hätten, als bislang bei 8. bis 10. Jh. gesehen [en.wiki: Abraham Firkovich].

Nach dem frühen 12. Jh. zieht der Überlieferungsstrang bis ins 16. Jh. In den Jahren 1524/25 erschien die gedruckte ‚Standardausgabe‘ der Bibel mit masoretischen Zeichen, die zweite sog. Rabbi­nerbibel von Jakob ben Chaijim Ibn Adonijah (geb. um 1470 in Tunis, gest. vor 1538). Sie verlegte Daniel Bomberg, ein christlicher Flame in Venedig. Dort hat Jakob nicht nur diese Jahrhundertausgabe bewerkstelligt, sondern fast gleichzeitig Edition und Korrektur des babylonischen Talmuds (1520/23), des Jerusalemer Talmuds (1522/23), Natans hebräische Konkordanz (1523) und Maimonides‘ Mische Tora (1524) [Kahle, X]. Die große Bomberg-Bibel beruhte nach mehr als 550 Jahren „im Wesentlichen auf Basis des Textes des Masoreten Aaron ben Ascher, der auch die Billigung des Maimonides gefunden hatte“ [wiki: Bomberg].

„Die eigentliche Kenntnis dieses masoretischen Materials war verloren gegangen. Die große Leistung des Jakob ben Chaijim bestand darin, daß er dies Material neu studierte, es ordnete, es an den Rändern seiner Ausgabe abdruckte, es auch am Schlusse in alphabetischer Ordnung noch einmal zusammenstellte, und daß er nach diesem Material seinen Text revidierte und festsetzte“ [Kahle, VIII].

Jakob ben Chaijim, dieser unermüdliche Bearbeiter jüdischer Texte, ist danach zum Christentum konvertiert [wiki: Jacob Ben Chajim Ibn Adonijah]. Ein christlicher Drucker und ein später Konvertit bringen die großen Texte der Juden zum Druck – das ist ähnlich unwahrscheinlich wie ein Jude, der für den Papst den Gregorianischen Kalender entwirft! [erstmals Illig 2020, 113-159]

„Über 6000 hebräische Bibelhandschriften werden der protomasoretischen und masoretischen Überlieferung zugeordnet. Etwa 2700 davon sind datiert und vor 1540 entstanden. Darunter sind sechs bekannte Codices aus dem 10., acht aus dem 11. und 27 aus dem 12. Jahrhundert“ [wiki: Masoretischer Text].

Es sind nur noch wenige Bibelabschriften zu ergänzen, um die ältesten beisammen zu haben. Da hat erst im Jahr 2013 Mauro Perani in der Bibliothek der Universität Bologna „die nach seinen Angaben bislang älteste bekannte komplett erhaltene Thora-Rolle entdeckt“ [dpa]. Sie wird in die Zeit zwischen 1155 und 1225 datiert [dpa]; merkwürdigerweise ohne Masora geschrieben!

Der Damascus Pentateuch enthält bis auf einige Anfangspassagen die fünf Bücher Moses vollständig. Der Schreiber ist unbekannt; er kam mit weniger Vokalisierungen aus als der Codex Aleppo, dazu große wie kleine Masora. Er folgte dabei den Angaben von Aaron ben Asher und wird vage ins 10. Jh. datiert, manchmal auch um 1000. Er wurde erst bekannt, als ihn der Sammler David Solomon Sassoon zu Beginn des 20. Jh. in Damaskus gekauft hat [en.wiki: Damascus Pentateuch].

„Der von Unbekannten geschriebene Codex B.M. Or 4445 (ca. 900–950) enthält große Teile der Tora. Der Codex C3 aus einer Kairoer Karäer-Synagoge entstand ebenfalls im 10. Jahrhundert und enthält die ganze Tora. Er wurde zuerst mit dem Ben-Naftali-System vokalisiert, von Mi­schael ben Usiel jedoch vollständig dem Vokal- und Akzentsystem von Ben Ascher angeglichen, so dass er dieses exakt vertritt“ [wiki: Masoretischer Text; Hvhg. HI].

Codex B. M. Or. 4445 (London Codex) is a codex dating back to 920 or 950 C.E.“ [sebts; Hvhg. HI].

Bei diesen wenigen Fundstücken ließe sich einen Moment lang befürchten, der jüdische Glaube sei erst im 10. nachchristlichen Jahrhundert fixiert worden. Doch hier tritt Qumran, hier treten die Schriftrollen vom Toten Meer in den Zeugenstand. Sie

„wurden zwischen 1947 und 1956 in elf Felshöhlen nahe der Ruinenstätte Khirbet Qumran im Westjordanland entdeckt. Sie umfassen rund 15.000 Fragmente von etwa 850 Rollen aus dem antiken Judentum, die von mindestens 500 verschiedenen Schreibern zwischen 250 v. Chr. und 40 n. Chr. beschriftet wurden. Darunter sind etwa 200 Texte des späteren Tanach, die bislang ältesten bekannten Bibelhandschriften. Später wurden noch weitere antike Schrifftrollen in Höhlen nahe dem Westufer des Toten Meeres gefunden“ [wiki: Schriftrollen vom Toten Meer].

Doch hier entscheidet nicht allein das Alter, sondern auch die Texttreue. Hierzu lässt sich der umfangreichste Textfund prüfen.

„Die aus der Zeit um 200 v. Chr. stammende Große Jesajarolle gibt auf 7,34 Metern nahezu lückenlos den Text des Prophetenbuchs Jesaja wieder. Er deckt sich bis auf wenige unbedeutende Abweichungen mit der bis dahin ältesten vollständigen Bibelhandschrift, dem Codex Leningradensis von 1008 n. Chr. Deshalb gehen Bibelforscher heute von einer enormen Genauigkeit bei den mindestens 1200 Jahre fortgesetzten Kopien von Bibelhandschriften aus, die dem Masoretischen Texttyp zugeordnet werden“ [wiki: Schriftrollen vom Toten Meer].

Codex von Aleppo und Codex Leningradensis „liegen allen heutigen wissenschaftlichen Ausgaben des hebräischen Bibeltexts zugrunde“ [wiki: Masoretischer Text]. Diese Kontinuität in der Textbewahrung muss höchste Bewunderung erregen. Nun lässt sich eine ungefähre Reihenfolge anhand von ca.-Datierungen erstellen, die natürlich durch Fragmente und Einzelbücher ergänzt werden könnte.

1155 –1225 Tora von Bologna (ohne Masora)
11. Jh. Codex Cairo (mit Masora)
1008 Codex Leningradensin (mit Masora)
1000 Damaskus Pentateuch (nur Tora, viell. 10. Jh., mit Masora)
920–950 London Codex (Codex B. M. Or. 4445, mit Masora)
920 Aleppo Codex (mit Masora)
916 Petersburger Prophetenkodex (mit Masora)
-250 bis +40 Qumran-Schriftrollen; unter den Fragmenten sind alle Bücher der Bibel außer Es­ther vertreten, Teil der Ketuvim.
Eine der Qumran-Rollen, wohl -1. Jh. [ICEJ = The International Christian Embassy Jerusalem]
Eine der Qumran-Rollen, wohl -1. Jh. [ICEJ = The International Christian Embassy Jerusalem]

Zu ergänzen sind aus christlichen Händen die beiden ältesten griechischen Texte mit großen Teilen des Alten Testaments und dem vollständigen Neuen Testament:

330-360 Codex Sinaiticus: ein Großteil des Alten Testaments, das gesamte Neue Testament von Matthäus bis zur Offenbarung sowie zwei apokryphe Schriften, dem Brief des Barnabas und dem Beginn des Hirten des Hermas. Der Code wurde 1844 von Konstantin von Tischendorf im Katharinenkloster gefunden. Die weiteren Stationen waren Kairo, Moskau und schließlich das British Museum, London.
300-305 Codex Vaticanus: AT und NT fast vollständig, in Unzialen in Ägypten oder Palästina geschrieben; seit dem 15. Jh. im Vatikan.

Aber wie sieht es eine Stufe unterhalb der großen Codices aus? Hier könnten Funde in Synagogen weiterhelfen. Die Juden achten Geschriebenes so sehr, dass sie nichts wegwerfen, was an den Namen Gottes gemahnt. Sie richten für diese und andere Schriften eigene Lagerstätten ein, sog. Genizoth, ob in Kellern, Nebenräumen oder Dachböden von Synagogen. Die bekannteste Geniza in Süddeutschland ist die von Veitshöchheim, einem Ort, den auch sein Rokokogarten, der gegenwärtige geographische Mittelpunkt der EU und seine alljährliche Faschingsveranstaltung auszeichnen. Die dortige Geniza der Synagoge wurde von 1730 bis 1900 belegt.

Doch die größte ihrer Art war die Geniza der Ben-Esra-Synagoge in Kairos Altstadt, in Fostat. Als hier 1897 Rabbi Solomon Schechter den versteckten Raum betrat, erwarteten ihn – wie sich erst allmählich absehen ließ – 200.000 bis über 300.000 Schriftstücke.

„Das Heilige und das Profane kamen sich hier ganz nah. Thorarollen, Talmude, Haggadot und Bibeln hatten sich vermischt mit Gerichtsurteilen, Heiratsverträgen, Schulheften, Geschäftsabschlüssen, Einkaufszetteln und Kochrezepten. Auf Pergamenten, Papyri und Papier. In Sprachen von Arabisch bis Ugaritisch – meist in hebräischen Buchstaben geschrieben. Manche Experten sagen, die Kairoer Geniza sei wichtiger als die bekannteren Qumran-Schriften, die 50 Jahre später am Toten Meer entdeckt wurden. Denn die Geniza umfasst einen viel weiteren Raum: zeitlich, inhaltlich und geografisch. Ein Teil der Funde aus den Höhlen von Qumran, die Damaskusschrift, war bereits als Abschrift im Kairoer Fund enthalten“ [Petrin 2020/1].

Heute lagert der gigantische Fund in der Universitätsbibliothek Cambridge, in St. Petersburg und andernorts, wo weiterhin Stück für Stück ausgewertet wird. Erst die gute Hälfte sei katalogisiert. Kalif el-Hakim ließ als Glaubensfanatiker 1009 das Grab Christi und die Grabeskirche zerstören, 1012 dann die Synagoge in Kairo. Sie wurde von den Gläubigen bis 1040 wieder errichtet. Da die Synagoge 1892 neu gebaut worden ist, bewahrte sie Schriftzeugnisse von mindestens 1.000 Jahren.

„Das älteste Objekt ist aus dem fünften Jahrhundert, das jüngste von 1899. Sie deckt eine vielfältige Gemeinde von Juden ab, die von überall hergezogen waren. Von Malaysia bis zum Iran. Sie enthält die ganze jüdische Welt! Bis zur Entdeckung der Geniza von Kairo stützte sich die jüdische Geschichtsschreibung des Mittelalters allein auf die Erfahrungen derjenigen Juden, die in christlichen Ländern lebten. Aber mit der Entdeckung der Geniza haben wir nun Zugang zu einem großen Teil der Informationen über die restlichen 90 Prozent der Juden, die im Mittelalter in islamischen Ländern lebten“ [Petrin 2020/2].

In diesem Schatz gibt es – ein früherer Forschungsstand – für die Zeit vor der Jahrtausendwende nur ca. 15.000 Schriftstücke [Heinsohn 2003, 550]. 1998 galt noch ein unfertiger Ehekontrakt ohne Jahreszahl als frühestes Zeugnis, datiert auf das Jahr 871 [Barnavi, 90, lt. Hein­sohn 1999, 363], heute wird ein Objekt aus dem 5. Jh. genannt. Die ältesten Schriftstücke werden ab 800 eingestuft [wiki: Geniza]. 15.000 Schriftstücke vor dem Jahr 1000 sind nur fünf Prozent des aktuell geschätzten Volumens. Das muss angesichts der Zerstörung von 1012 nicht verwundern. Dabei wäre Aufhellung dringend erwünscht, kämpft doch das Judentum mit „dark ages“ im frühen Mittelalter. Simon Dubnow kannte nicht einmal Chroniken und Schreiber für diese Zeit [Dubnow lt. Heinsohn 1999, 364]. Cecil Roth und seine Mitarbeiter sprachen die „dark ages“ 1966 bereits in ihrem Buchtitel für Europa explizit an und räumten ein, für diese Zeit nur von den Zeiträndern her interpolieren zu können [Roth u.a.; vgl. Illig 1999, 130 f.]. Dasselbe Problem hatte Mose Gil [1992] für die frühmittelalterliche Zeit in Palästina von 634 bis 1099. Ihm halfen allenfalls Fragmente aus Kairos Geniza:

„Were it not for these documents and the dedicated work of these researchers, we would know very little about the Jews of Palestine during this period“ [Gil, XVI lt Heinsohn 1999, 363].

Also gäbe es ohne die relativ wenigen Geniza-Schriftstücke kaum ein Wissen über diese fragliche Zeit. Anders als in Europa haben Juden dort gebaut: nach der Tempelzerstörung Hunderte von Synagogen bis ins 8. Jh.; bis 1971 waren 131 davon archäologisch nachgewiesen [ebd. 372]. Gunnar Heinsohn konnte damals darauf verweisen, dass nichts über eine Zerstörung durch Moslems bekannt geworden ist, auch nicht in ergrabenen Stratigrafien, wohl aber durch die Kreuzfahrer ab 1099. Es ist unwahrscheinlich, dass Hunderte von Synagogen 400 und viel mehr Jahre den Zeiten standgehalten hätten. Deshalb schlug er vor, die Zeit des durch Synagogenstratigrafien belegten 7./8. Jh. mit den jüdisch-arabischen Schriftstücken des 10./11. Jh. zusammenzulegen [ebd. 384] und schließt:

„Insgesamt muß die vorläufige Bilanz lauten, daß die jüdische Geschichte Palästinas im frühen Mittelalter die Illigsche Geschichtsbücherkürzung um drei Jahrhunderte nicht etwa in Frage stellt, sondern – im Gegenteil – durch diesen Schritt endlich von tiefgreifenden Fragwürdigkeiten befreit werden kann“ [Heinsohn 1999, 385].

Es lässt sich nun auf besserer Grundlage fragen, wann die Masora tatsächlich entstanden ist. Eingangs war zu lesen, dass dies zwischen 500 und 800 gesehen werden. Doch greifbar wird sie erst zu Lebzeiten von Aaron ben Asher nach 900. Warum die große Unsicherheitsspanne? Die Untergrenze wird klar definiert:

„Aron Dotan schreibt im Artikel »Masorah« in der Encyclopaedia Judaica: »Im Jerusalemer Talmud (der in der ersten Hälfte des 5. Jh. vollendet wurde) und im Babylonischen Talmud (der am Ende des 5. Jh. vollendet wurde) gibt es keine Erwähnung von Vokal- und Akzentzeichen. Gleicherweise werden sie auch nicht in den frühsten Midraschim erwähnt« (2. Auflage, XIII, S. 604 MÜ)“ [Achilles/3].

Demnach lassen sich die Anfänge der Masoreten erst nach 500 erwarten. Die Überlieferungslücke endigt im Moment bei 916. Aber auch zeitlich vor dem Petersburger Codex sind Handschriften zu erwarten. Bis 1913 hat Paul Kahle [XXVIII] mehr als 50 derartige Handschriften, in noch viel mehr Fragmente zerfallen, gründlich auf ihre masoretischen Zeichen untersucht; sie stammten u.a. aus der Geniza von Kairo und der Sammlung von Firkowitsch. Er ging dabei davon aus, dass der Niedergang der babylonischen Hochschulen im 9. und in der ersten Hälfte des 10. Jh. erfolgt sei und demnach für die Fragmente keine jüngere Datierung als das 9. Jh. möglich sei. Das ergibt jedoch kein stimmiges Bild: Niedergang eines mit größtem Ernst und Eifer betriebenen Bibelstudiums bis 950, während gleichzeitig die großen Texte mit Masora entstehen. Ich kann in keiner Weise ausschließen, dass bereits vor den großen Codices des frühen 10. Jh. Schriften mit Masora entstanden sind.

Da sie keine Datierungen tragen, ist es ohne weiteres möglich, sie vor das „erfundene Mittelalter“ (614–911) zu bringen, also in das 6. und frühe 7. Jh. Damit wird den frühen Datierungen für die entstehende Masora Rechnung getragen – und den viel zu wenigen Funden vor 916, vor dem Petersburger Prophetenkodex. So schließt sich auch hier eine unverständliche und trotz vieler Arbeiten offengebliebene Lücke.

Literatur

Achilles, Oliver (2013): Auslegungssache. Ein blog über die Interpretation der Bibel; (Masoretische Beobachtungen = M.B. I – X) https://auslegungssache.at/Artikelüberschrift

– Achilles/3: Wann begann die Vokalisierung der hebräischen Bibel? (M.B. 3)

– Achilles/4: Wer hat den Codex Leningradensis geschrieben? (M.B. 4)

– Achilles/5: Die große und die kleine Masura (M.B. 5)

– Achilles/9: »Nun inversum« und »Antisigma« (M.B. 9)

– Achilles/10: Die Mitte der Tora (M.B. 10)

Barnavi, Eli (Bar-Navi; Ed. 1998): A Historical Atlas oft he Jewish People ˑ from the time oft he Patriarchs to the present; Kuperard, London

Berger, Noemi (2016): Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums; Jüdische Allgemeine, 07. 11.

bibelausstellung = https://www.bibelausstellung.de/home/navi1030_1409_aleppo-codex-codex-leningradensis [Die Ausstellung in Wipperfürth ist von 2020 auf 2021 verschoben worden]

bibelwissenschaft = https://www.bibelwissenschaft.de/bibelgesellschaft-und-bibelwissenschaft/wissenschaftliche-bibelausgaben/biblia-hebraica/masora/

Borst, Arno (1995): Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. Band I: Fundamente und Aufbau; dtv, München (urspr. 1957-1963)

dpa (2013): Bislang älteste hebräische Thora-Rolle in Bologna entdeckt; dpa/mh, 29. 05.

Dubnow, Simon (1926): Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart. In zehn Bänden; Berlin, Jüdischer Verlag

Harkavy, Alexander / Strack, Hermann L. (1875): Catalog der hebräischen Bibelhandschriften der kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Erster und zweiter Teil; Ricker, Petersburg / Hinrich, Leipzig https://archive.org/details/CatalogDerHebrischenBibelhandschriftenDerKaiserlichenffentlichen/page/n155/mode/2up

Gil, Mose (1992): A History of Palestine 634-1099; University Press, Cambridge (hebr. 1983)

Heinsohn, Gunnar (2003): Sizilien und seine frühmittelalterliche Fundlücke; Zeitensprünge, 15 (3) 540-555

– (1999): Jüdisches Leben im frühmittelalterlichen Palästina. Ist die von den Kreuzfahrern 1099 zerstörte Syn­a­gogenkultur archäologisch wirklich unauffindbar? Zeitensprünge, 11 (3) 356-388

Illig, Heribert (²2020): Gregors Kalenderreform 1582 ˑ Cäsar, Nikäa und zwei päpstliche Notlügen; Mantis, Gräfelfing
– (1999): Wer hat an der Uhr gedreht? Wie 300 Jahre Mittelalter erfunden wurden; Econ, Düsseldorf (spätere, seitengleiche Auflagen bei Ullstein, Berlin, variierender Untertitel]

JE = Jewish Encyclopedia = jewishencyclopedia.com/articles/10465-masorah [Text von 1906]

Jüdisches Leben = https://juedisches-leben.erfurt.de/jl/de/mittelalter/handschriften/wissenswertes/118698.html

Kahle, Paul (1913): Masoreten des Ostens ˑ Die ältesten punktierten Handschriften des Alten Testamens und der Targume; Hinrichs, Leipzig

Kreuzer, Siegfried (2012): Codex Petropolitanus ist nicht Codex Leningradensis; De Gruyter; https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zaw-2012-0009/html

Petrin, Susanna (2020/2): Geniza von KairoTalmudkopien, Einkaufszettel und philosophische Dokumente; Deutschlandfunk Kultur, 05. 06.

– (2020/1): Ein Loch in der Wand – und dahinter tausend Jahre Geschichte; NZZ, 28. 01.

Roth, Cecil / Levine, I. H. (Hgg. 1966): The Dark Ages. Jews in Christian Europe 711 – 1096 (Band 11 der World History of the Jewish People); Massadah, Tel-Aviv

sebts = https://library.sebts.edu/c.php?g=457318&p=3128185 [The Library at Southeastern]

wiki = Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Artikel

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